An einem frühen Morgen öffnete sich langsam die Tür unter dem Vordach am Forsthaus von Rúzová, was auf deutsch Rosendorf heißt. Pepík hob sich auf die Zehenspitzen und schaute vorsichtig über die Brüstung auf die leere, sonnenüberflutete Straße. Dann kam er ganz heraus, lehnte einen Wanderstab an die Mauer, legte ein kleines Bündel dazu und schloß die Türe leise mit beiden Händen. Er nahm Stock und Bündel wieder auf, stieg die beiden Stufen zur Straße hinunter und ging mit Schritten, so rüstig, wie sie ein Fünfjähriger eben zustande bringt, aufwärts zum Dorf hinaus.
Die Smidtová, die gerade ihr Bettzeug zum Lüften
auf die Fensterbänke in die warme Sonne legte, sah ihn vorbeiziehen
mit dem Stock, den er geschultert hatte, weil er wohl doch ein bißchen
zu lang war, als daß er hätte beim Gehen unterstützen können,
mit dem Bündel und der viel zu kleinen grünen Jacke. Sie machte
sich auf, um im Forsthaus nach dem Rechten zu sehen und fand den Großvater
hinten im Obstgarten. Er verstand die alte, wortkarge Frau schnell. Nachdenklich
betrachtete er sein linkes Handgelenk, das manchmal schmerzte, und dann
den Ruzák, den Rosenberg. Die sechshundert Meter hohe Basaltkuppe,
geheimnisvoll umhüllt von dichtem Rotbuchenwald, duldete wohlwollend
und mürrisch das Dorf unter sich.
"Pepík ist ein ernsthafter Junge", sagte der Großvater. "Ich werd's dem Revierförster zu Mittag erzählen." Er nannte den Schwiegersohn immer nur nach seinem Amte. Die Smidtová nickte und ging.
Pepík bog inzwischen an den wie immer ein wenig
stinkenden Futtersilos in die Wiesen ein. Am Úvoz, der eigentlich
gar kein Hohlweg war, sondern ein schattiges, kühles, auf beiden Seiten
von Eschen und Eichen und mancherlei Gesträuch geschütztes Stück
Feldweg, blieb er stehen.
Bis hierher war er mit den anderen Jungen schon gekommen.
Schatten und Regenschutz der Bäume, dichtes, trockenes, hartes Gras
und der Abstand zum Dorf machten die Stelle anheimelnd und heimlich.
Er lehnte sich an ein Stück alten Zaun, blickte zögernd
zu den Häusern zurück und dann vorwärts, um das nächste
von den gelben Wegezeichen zu finden, die ihn zum Gipfel des Berges führen
würden. Schließlich überschritt er die Grenze seines bisherigen
Lebenskreises hinaus ins Sonnenlicht.
Gegenüber am Hutberg hatte der Revierförster
ein paar Waldarbeiter eingewiesen und suchte mit dem Fernglas die Felder
am Rúzák nach Hirschkühen ab, die vielleicht noch nicht
in den Schatten des Waldes zurückgewichen waren. Er sah seinen Sohn,
den Wanderstock, das Bündel und die grüne Jacke und erinnerte
sich seiner lehrhaften Reden über unauffällige Kleidung im Walde
und das Ziel der gelben Wegemarkierung. Das beruhigte ihn.
Pepík ging weiter den nun asphaltierten Weg am
Waldrand entlang, dann rechts einen Trampelpfad durch den Farn. Schließlich
begann dort, wo der Pfad den Fahrweg noch einmal berührte, der Aufstieg,
erst geradenwegs, später in ständigen Kehren. Zweimal traf der
Pfad auf den steilen Abfall in eine Geröllgrube. Von dort sah Pepík
weit bis hinein ins Deutsche mit seinen sonderbar geformten Sandsteinbergen.
Es ging nun steiler bergauf und wurde beschwerlicher durch Geröll,
Brennessel und querliegende Baumstämme. Pepík war leicht, und
die Schwierigkeiten beeindruckten ihn nicht. Nur Stock und Bündel
störten ein wenig. Die warme Jacke knöpfte er auf. Am Abzweig,
wo links der Weg ins Nachbartal geht und rechts zum Gipfel, bog er auch
richtig ab. Oben fand er die Grundmauern des zerfallenen Gasthauses und
die Klippen. An der unteren, kleineren Klippe, ein Stück vom Wege
ab, setzte er sich müde ins Gras, kaute ein Hörnchen aus seinem
Bündel und trank einen Schluck Wasser aus der Flasche. Der Aufstieg
in dieser heißen Luft hatte viel von seinen kleinen Kräften
verbraucht. Seine Gedanken, eben noch scharf auf den Weg, die Hindernisse
und die Geräusche rundumher gerichtet, zerfielen. Er legte den Kopf
auf das Bündel und glitt in einen zufriedenen Schlaf.
Seine Leute in der Försterei saßen am Mittagstisch.
Die Mutter hatte vormittags im Gemischtwarenladen gearbeitet und sah nun
ängstlich und erbittert auf die Männer, die ruhig ihre Suppe
und ihren Knödel aßen und schwiegen.
Am Nachmittag stieg auch der Revierförster auf den
Berg. Stark und im Steigen geübt, brauchte er eine Stunde bis zum
Gipfel und weckte seinen Sohn, der noch immer schlief. Sie kehrten gemeinsam
zurück. An den Lichtungen blickten sie bedächtig übers Land.
Der Vater nannte die Namen der Berge und Dörfer.
Als der Abend zu dunkeln begann, hockten Großvater
und Revierförster hinterm Haus mit ihrem Rotwein.
"Auf halbem Wege zur Wolfswiese holte mich mein Vater
ein." Der Revierförster stammte aus dem Isergebirge. "Ich
war losgegangen, um den Wolf zu suchen." Der Großvater betrachtete
sein linkes Handgelenk und erinnerte sich an das Gefühl unbändiger
Freiheit. Es hatte ihn auch nicht verlassen, als er beim Abstieg aus dem
Riß rutschte und drei Meter tiefer auf dem Waldboden aufschlug.
Der Vater blickte auf den schwarzen, im Dunkel flüsternden
Rosenberg, der Großvater auf das geöffnete Fenster unter dem
Dach, wo Pepík schlief. "Mehr als ein Geburtstag", dachten
sie, "der Tag, an dem es allein in die Welt ging."

Trotzig steht er da, einsam emporstrebend aus der Tiefe
des Zschands, alles um sich her überragend. Zwar erreicht er nicht
die Höhe des Massivs drüben, aber er steht weitab genug, daß
er sich nicht vor Mächtigerem bücken muß.
So dachte wohl auch der recke zcum wintersteine,
der hier im fünfzehnten Jahrhundert hauste. Die Landesherren und der
Städtebund bedrängten ihn. Aber ein allein stehender Mensch ist
weniger fest als ein allein stehender Fels. Nachdem man Nachbarn und Freunde
gezwungen hatte, dem wilden Gesellen abzuschwören, wurde er gedemütigt
und vertrieben.
Sand und Steine in Massen hat der Felsen abgeworfen, als
er sich vom Massiv löste. Wasser und Wind haben das meiste davon mitgenommen.
Eine mächtige Halde ist übriggeblieben und ein Blocksaum am Fuß
des Felsens.
Beides überwindend erreicht man den Zugang der Höhle. Sie war ein Teil der Unterburg. Steinbänke sind hier aus jener alten Zeit und eine Feuerstelle aus neuer. Und natürlich die Leiter zu dem Band. Ohne sie wäre es nur Bergsteigern möglich, hinauf und in die Kluft zu gelangen, die zum Gipfel führt. Nach dem vorerst letzten deutschen Kriege waren die Steiganlagen verrottet und entfernt, und die Kletterer fanden siebzehn Wege, die alle den sächsischen Regeln entsprachen. Dann stellten eifrige Wanderer eine hölzerne Leiter auf. Das Band blieb frei. Heute ist alles aus Edelstahl. Zappelige, atemlose, kreischende Touristen schützt ein Fangkorb.
Ich steige hinauf. Es ist ein milder Sommerabend. Die wimmelnden Fremden hasten schon auf ihren Heimwegen.
Im oberen Teil der Leiter muß ich mich wie gewöhnlich
flach auf sie legen. Der Rucksack schabt am Stein. Ich tappe durch die
Kluft und halte mich dann rechts. Da ist der Riß. Ich muß den
Rucksack abnehmen. Schließlich tauche ich auf das Plateau.
Oben sitzt einer, der so alt ist wie ich, und beobachtet
mich. Ich nicke ihm zu und sehe mich in der Landschaft um, wie ich es gewohnt
bin. Der Mann sagt:
"Komm her! Heute ist hier der beste Platz."
Ich setze mich neben ihn und lasse wie er die Beine in einen Riß
baumeln.
"Rotwein?" Er gießt den Rest aus seiner
Flasche in meinen Becher. "Oft hier oben?"
"Früher. Jetzt nicht mehr. Zuviel Leute."
Er grinst.
"Abends geht's. Mußt nur sehen, daß de runterkommst, eh's dunkel wird. Sonst kannste dir de Knochen brechen."
Da hinten geht eine rotgelbe Sonne unter. Die Kette der Schrammsteine schwimmt wie dunkler Dunst in hellerem. Ich grabe aus meinem Rucksack die Flasche und schenke nun ihm ein. Er kostet.
"Na", sagt er, "auch aus'm Karton?"
"Für unterwegs ist er gut. Nicht zu süß,und man braucht nicht zu sparen. Außerdem ist er schön voll Luft durchs Schütteln. Zu Hause kriegt man das nicht hin."
Er schweigt eine Weile, als wäre er gerührt, daß ihm ein anderer seine Gedanken vorspricht. Die Sonne ist kaum noch zu sehen. Laue Luft beginnt, über den Felsen zu streichen.
"Nur einmal bisher habe ich unten gestanden und bin nicht hochgestiegen, an einem Abend zehn Tage vor Weihnachten. Der Schnee lag mehr als knöcheltief. Bis in die Höhle bin ich gekommen. Die alte Holzleiter stand noch drin. Das Band glänzte im Dunkel, schwarz, vereist. Eine Freundin war mit dabei. Die einzige in meinem Leben, der ich eine von meinen Stellen zeigen wollte. Sie hatte sich für die Tour nur mühevoll losmachen können. Wir sahen hinauf. Bei aller Unvernunft. Es ging nicht.
Unten auf der Zeughausstraße kam dann ein Taxi. Stell dir vor: Winter, Abend, diese Gegend, ein Taxi! Wahrscheinlich hatte es jemanden ins Ferienheim gebracht.
Wir fuhren zurück. Die ganze Zeit überlegte ich, ob mein Geld reichen würde.
Letzten Endes war aber alles ein Glück für uns. Ich hatte mich mit der Zeit völlig vertan. Ohne Eis und Taxi wären wir viel zu spät zurückgekommen."
Er schweigt eine Weile. Dann trinkt er langsam den Wein aus, so, wie ich es auch gern tue: Er füllt sich den Mund und wartet lange, ehe er schluckt. Dann spricht er mit langen Pausen:
"Wir waren nur kurz zusammen ...
... nicht mal einen Monat ...
... ich war neu, ganz neu und anders ...
... und habe ihr nie danken können."
Die Dämmerung wird zu tief. Wir steigen zurück.
"Willste übers Massiv oder zum Beuthenfall?"
Wir gehen nach Schmilka und sprechen miteinander nur noch die wenigen Worte, die der Weg notwendig macht.

Drei Juwelen besitzt der Rachel: einen Smaragden, einen Rubin und einen Aquamarin. Kleinode, die er nicht im Tresor verborgen hat, weil sie niemand davontragen kann, und weil er sie, die Insignien seines Standes, nicht ablegen kann. Frei und offen strahlen sie jedem entgegen, kaum zu schützen vor Schmutz und Schändung.
Der See ist der Smaragd. Umgeben von steilen Hängen,
die beinahe genauso senkrecht aufstreben wie die Fichten, die auf ihnen
wachsen. Schweben die Wolken tief, ändert er seine Farbe, wird milchig,
fast weiß. Alles scheint flacher zu werden: das Wasser, die Landschaft,
das Licht. Im Herbst schmücken rote Vogelbeeren und buntes Laub seine
Ufer.
Am besten, man ist morgens hier. Stille lebt ringsum.
Die Insekten fliegen noch nicht. Die Vögel warten, daß der Tau
auf ihrem Gefieder trocknet. Aber der Wald reckt sich schon ein wenig.
Es knackt da und dort. Manchmal raschelt es auch.
Die Fläche des Sees ist unbewegt. Nicht, daß
sie schwer lasten würde. Sie schwebt über dem Grund und atmet
kaum. Der Hang gegenüber verdämmert im Dunst. Es ist kühl
und feucht.
Dann tönen irgendwoher Stimmen. Ich fliehe den Berg
hinauf.
In halber Höhe steht die Kapelle auf einem Felsvorsprung.
Ganz aus Holz ist sie gebaut. An einer Seitenwand entlang kann man nach
vorn gehen. Unten liegt still der smaragdene See. Noch immer verhängt
Dunst die weitere Sicht. Die Tür der Gotteskate ist mit einem hölzernen
Riegel mehr festgehalten als versperrt. Innen schimmert das blanke Holze,
bedeckt von der Erinnerung an die Hände, die es berührten und
bearbeiteten. Schrifttafeln sind da. Eine berichtet von Johann Lentner,
dem Herrgottsschnitzer. Heilige Augen blicken hernieder. Eine Glocke im
Gebälk kann rufen, wenn es nötig ist.
Rubinrot warm wird die Seele eingehüllt von der Andacht
der Erbauer und der Beter dieser Hütte Gottes. Hocken möchte
man hier, wenn Wetter und Jahreszeit den Grellen aus der Welt der Plakate
mit ihren lauten Stimmen und verschleierten Zuschauerblicken den Weg hierher
verleidet haben.
Heute steige ich weiter aufwärts.
Über den Gipfelklippen reckt sich hochauf das Kreuz.
An feierlichen Tagen hebt ein tiefblauer Himmel das schwarzbraune Holz
hervor aus dem unendlichen Raume und der Christus leuchtet silbrig, verkündend
seine eindringliche Botschaft. In grauen Alltagen steht es mahnend, herausgehoben
auf dem Berg, Sinnbild der Beständigkeit eines Glaubens.
Bei gutem Wetter krauchen unzählige Menschen vom
überfüllten Parkplatz her die markierten Wege den Berg herauf.
Zirkusbunt sind sie gekleidet in Sachen, die einem Regenguß oder
einem stärkeren Wind nicht standhalten würden. Ihre Schuhe klagen
noch mehr als die darinsteckenden Füße über die Beschwerlichkeiten
des Weges. Laut und aufdringlich fegen ihre leeren Worte durch die Luft.
Dann wimmeln sie um IHN herum. Selbst diejenigen, die sonst in Kirchen
ein Kreuz zu schlagen pflegen, halten es hier nicht für nötig,
hier, vor einem Altare, der nicht nur Heil und Triumph verkündet,
der nicht nur erinnert an die Liebe zum Nächsten, sondern der auch
die Verantwortung des Menschen für die Schöpfung beschwört.
Man schwatzt, hoppelt über die Felsen und eigentlich langweilt man
sich. Die Landschaft wird nicht betrachtet und das Kreuz nicht beachtet,
es sei denn, jemand zückt seine Kamera zu einem Gruppenbild mit dem
Herrgott.
Ein Frommer hockt am Fuße des Kreuzes bei Nebel
und allein. Unauffällig. Er hebt sich kaum vom Stein ab. Die weiten
Landschaften des Gebirges sind verborgen, aber er spürt sie. Ob er
gläubig ist oder nicht: Andacht erfüllt ihn. Kraftvoll und standhaft
leuchtet der Aquamarin im Dunst. Ruhig und sicher steigt der Wanderer wieder
ins Tiefland hinab.
Drei Juwelen trägt stolz und bekümmert der Rachel.

Abend auf der Goldsteinaussicht
Endlich habe ich das letzte und beschwerlichste Stück hinter mir, bin oben auf dem Massiv und tappe über den Waldboden vor zur Aussicht. Das gehört zu meiner Ordnung auf dem Heimweg aus dem Großen Zschand: Den steilen Roßsteig geht es mit den letzten Kräften hinauf, ein bißchen hilft das Bier aus dem Zeughaus mit, und dann muß die Ruhepause auf der Goldsteinaussicht sein.
Abends ist niemand hier. Die einen streben nach Schmilka
zum Zug und haben es eilig, wie ich manchmal. Sie laufen vorbei, wie ich
trotz allem niemals. Die anderen hasten in ihr Urlaubsquartier. Sie ängstigen
sich in der Dämmerung. Nichts zieht sie her.
Ich setze mich auf den bequemen Stein, der gerade die
richtige Höhe hat, daß die Beine verschnaufen können, und
einen Absatz, auf dem der Rucksack steht. Ich brauche mich nicht aus den
Riemen zu winden, hole tief Luft nach den Mühen des Aufstieges und
sehe hin.
Da ist gar nichts. Eine ergrauende Landschaft ohne diese
schroff verzerrten Formen, die die Weithergekommenen an diesem Gebirge
reizen. Unten ruht schwer das Tal, der Zschand, bis oben mit Fichten gefüllt.
Im zerstreuten Licht mischt das Auge Baum und Stein. Dieser Fleck ist die
Sommerwand und jene Spitze kein Wipfel, sondern ein Felsen am Klingermassiv.
Doch ich will mich nicht auskennen, schwebend in diesem Raume bis zur Grenze
von Himmel und Erde. Die Basaltkuppen da hinten im Böhmischen, sie
sind da, ich muß sie nicht sehen.
Heute klirren keine Karabiner der Kletterer vom Goldstein
herüber. Nachmittags hatte es geregnet, und es ist mitten in der Woche.
Das Laub am Boden liegt still. Die Vögel sind schlafen geflogen.
Lautlosigkeit legt einen Reifen um das Gehirn. Es schmerzt.
Die grauen Flächen bedrängen mich. Sie zerlaufen in der Dämmerung
wie in der Zeit. Fahles Licht, auf dem ich gleite, in dem ich mich auflöse
und Teil von ihnen werde.
Durch das Grau fließt Luft und zieht mich zurück
auf meinen Sitz. Der Reifen löst sich. Das Bild sinkt in die Dunkelheit.
Niemals werde ich an der Goldsteinaussicht vorbeilaufen. Sie wiederholt sich nicht, wie auch meine Erinnerung wegtreibt. Immer gehe ich anders von ihr, als ich kam.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Goethe, Wandrers Nachtlied
Die Kraft der Geräusche ist meßbar. Die Macht der Stille nicht. Auch der tiefsten Stille wohnt Bewegung inne. Ist der Mensch dahin gelangt, wo er die Stille empfindet, und läßt sich tiefer gleiten, wird die Bewegung stärker.
In Goethes Gedicht nur scheinbar nicht. Mit diesem "kaum"
wird Bewegung angedeutet. Da bleibt der Hauch von einem Hauch, der die
Tiefe der Stille ausmacht. Nicht, daß etwa die Blätter raschelten.
Aber ein wenig bewegen sie sich. So, als ob sie zeigen müßten:
sie leben, sie nehmen teil an der Stille.
Die Vögelein schweigen. Der Stadtmensch Becher hat geschrieben, daß damit "die Ruhe wiederholt wird, immer ruhiger, die Stille immer stiller wird". Er irrt. Sicher wird die Stille immer stiller, aber nicht dadurch, daß die Ruhe ruhiger wird. Goethe erinnert an die Vögelein. Da ist genügend Bewegung von ihnen zu hören. Das Rascheln eines Blattes am Boden. Der Luftstoß eines Flügelschlages. Das Knistern eines entlasteten Zweiges.
Ein Nachtlied. Am Ende ruht der Wandrer in der Natur und
löst sich in ihr auf. Auflösung ohne Bewegung aber ist unmöglich.
Und ein stiller Wald ist voller Bewegung. Ihr Geräusch
ist ganz leise, oft nur zu spüren, nicht zu hören. Selbst der
Tanz der Moleküle in der Luft gehört zum Atem der Natur.
Es ist ein Nachtlied.
Tagsüber johlen die Touristen über die Gipfel, Flugzeuge dröhnen, der Wind saust durch die Bäume oder der Regen klatscht oder das Licht der Sonnenglut rauscht im Laub. Die Vögelein schweigen nicht. Sie lärmen, tauschen Signale, pfeifen aufdringlich nach den Weibern oder pladdern nur einfach so vor sich hin. In der Ferne randaliert die Technik.
Die Nachschlagewerke tun sich schwer mit der Bestimmung dessen, was Stille und was Ruhe ist. Aus den großen Deutschen Wörterbüchern liest man kaum einen Unterschied zwischen beiden Begriffen heraus. Nur in den übertragenen Anwendungen. Aber gerade das hätte doch die Autoren anspornen müssen, auch beim Grundbegriff genauer zu sein. Sie haben es versäumt oder nicht gekonnt. Es verblüfft dann um so mehr, daß in dem kleinen Bedeutungswörterbuch des DUDEN der feine Goethesche Unterschied voll erfaßt wird: Ruhe ist das Aufhören der Bewegung, der Stillstand, und Stille ist ein Zustand, bei dem kaum ein Laut zu hören ist.
Wenn den Menschen die Schwingungen des Ganzen durchdringen
und er ihnen antwortet, dann ist Stille. Die Geräte des Physikers
mögen etwas anderes anzeigen: Kirchenglocken, das ferne Fauchen eines
Autos, das Brummen eines Flugzeuges.
Ein jeder hat seine eigene Stille.
Der alte Weise hockt inmitten wimmelnder Menschen, eine
gläserne Glocke aus Gedanken über sich gestülpt.
Der Junge schläft, eingepackt in dröhnende Lautsprechermusik.
Der Nervöse schrickt selbst bei kleinen hörbaren
Geräuschen zusammen.
Die Hausfrau sitzt mit einer Tasse Milchkaffee in der
Küche neben dem summenden Kühlschrank und lauscht dem Knacken
der Heizung.
Die Katze liegt mit geschlossenen Augen im Lüftungsloch einer Backstube, umgeben vom Tumult der Straße. Sie hat eine Seele und empfindet Stille. Mancher streitet das ab.
Der Wanderer ruht auf dem Stamm der windgefällten Buche und lehnt den Rücken gegen einen Ast. Die Geräusche seiner Schritte und das Knarren des Rucksackes haben ihn den ganzen Tag begleitet und sind nun verstummt. Die Vögelein schweigen im Walde. Der Abend dämmert in die Nacht hinein.
Jeder hat seine Stille.
Jemand sagt, ein Gebirge wäre mannigfaltiger und
ihm deshalb als Urlaubsgegend angenehmer als ein Strand. Er braucht die
Unruhe der Bilder beim Drehen des Kopfes, nicht ihren Inhalt. Ein anderer
fährt lieber an die See als in die Berge, weil er gern faul herumhängt,
und Sonne, Sand und schiere Weiber ihm genügen.
Es gibt Menschen, die sind musikalisch. Jeder Ton findet
in ihrer Seele Widerhall.
Andere ergeben sich in der Stumpfheit ihrer Sinne den
dumpfen Druckstößen entarteter Rhythmen aus hochgetürmter
Elektronik, dem belanglosen Gefasel grinsender Schönlinge, diesem
und jenem aus der Hochglanzwerbung.
In gleicher Weise verhalten sich die Menschen zu den Landschaften,
einerlei, ob es Berge sind oder Ebenen, Strände oder Ströme.
Die einen nehmen auf, die anderen verbrauchen.
Niemand soll sagen dürfen, ich würde hier unzulässig
werben oder etwas unberechtigt vergessen. Deshalb werde ich keineswegs
aufzählen, wo die Leute hinfahren und wohin nicht. Aber ein Gegenbeispiel
will ich versuchen: den Klang der Landschaft unter dem Kipphorn. Ich verrate
nicht, wo das ist. Denn es bestände die Gefahr, daß einige mehr
hier auftauchen, die eine genormte Kulisse eigentlich besser befriedigt.
Es wird nichts zu hören sein. Aber auch die Noten eines Musikers sind
stumm. Nur dem erschließen sie sich, der sie zu lesen oder zu spielen
versteht oder - ein seltener Fall - jemanden kennt, der sie ihm wahrhaftig
ertönen läßt.
Ganz links will ich beginnen: Durch den Dunst dämmert
eine Flanke vom Rosenberg, der Rest ist durch Wipfel verdeckt. Ruzová,
Janov und Labská strán ducken sich auf die Ebenheit. Unten
strömt die Elbe vorbei an Dolní zleb, an den Dalben einer Anlegestelle
bei Hrensko und an der Gelobtbachmühle. Jenseits des Flusses ruhen
schwer auf dem Land der Snêzník, der Große und der Kleine
Zschirnstein. Die Häuser von Schöna und Reinhardtsdorf drängen
sich zwischen Zirkelstein, Kaiserkrone und Wolfsberg. Dahinter in der Ferne
schwimmen der Müllerstein und der Lampertstein. Davor lagert die Bande
der linkselbischen Steine: Laasensteine und Kohlbornstein, Pfaffenstein,
Gohrisch und Papststein - am Papststein sieht man immer noch die helle
Narbe vom Felssturz - Kleinhennersdorfer Stein mit Kleinhennersdorf, der
Königstein mit seiner Festung, Kleiner Bärenstein und Großer
und der Rauenstein. Der Lilienstein, höher als alle, wuchtig und von
der Elbe umflossen, herrscht über sie. Krippen, Bad Schandau, Postelwitz
hocken im Tal, Weißig, Rathmannsdorf und Ostrau auf den Ebenheiten.
Ganz rechts zieht sich die Schrammsteinkette hin.
Und dazwischen vieles, was eben eine Landschaft ausmacht:
Wälder, Wiesen und Wege, Häuser, Hügel und Hänge, Färbungen,
Felsen, Steinbrüche und der Fluß mit Fähren und Brücken.
Weiter unten jault manchmal eine Motorsäge, Vögel
singen, still und langsam gleiten zwei Lastkähne stromauf. Gelegentlich
brummt in scharfem Fluge eine Hummel vorbei. Die ist das scheinbar lauteste
Geräusch, das selbst das Rollen des Zuges im Tal übertönt.
An der Motorsäge bricht ein Baum nieder. Die Säge tönt weiter.
Eine zweite mischt sich ein. Bald wird es wieder brechen.
Ein Grünfink hüpft rechts durch die Eberesche.
Dann kommt er auf mich zu, wird aber mißtrauisch und fliegt weg.
Nun ist auch der zweite Lastkahn hinter den Bäumen
im Tal verschwunden. Beide kamen stromauf, deshalb werden wohl die Schiffsführer
nicht wegen Rauschgift, Schnaps, Zigaretten und heimlichen Fahrgästen
bangen. Geschmuggelt wird in anderer Richtung.
An einem Schönwettertag in der Woche kommen höchstens
zwanzig Leute hier herauf. Die Hälfte von ihnen bleibt nur die wenigen
Minuten, die sie braucht, um das Häkchen im Verzeichnis zu machen
und das Belegfoto anzufertigen. An guten Wochenenden kommen mehr, und ein
größerer Teil bleibt länger.
Die Stille wird gefährlich. Draußen beginnt
es zu flüstern und zu rufen. Ich verliere die Verbindung zum Felsen,
auf dem ich sitze, zu den Bäumen, die ringsum leise rauschen, zu den
Orten, wo ich herkomme und zu den Menschen, mit denen ich lebe.
Aber eine Landschaft hält gewöhnlich die Gebote.
So wird der Bann von mir genommen, ehe es zu spät ist. Die Erinnerung
bleibt.
Sela.

Wenn der Gaisbach die Tillfußalm erreicht hat, nennt
man ihn die Leutascher Ache. Ihre Wasser stammen von rechts aus der Mieminger
Kette und von links aus dem Wettersteingebirge. Der Igelseebach, der Schwarzbach,
der Kotbach, der Salzbach, der Klammbach und viele kleinere Bäche
und Quellen fließen ihr zu. Hat sie sich dann schließlich durch
die Talenge am Kalvarienberg gewunden, rauscht sie stattlich durch Oberleutasch
dahin. Grünmilchig schimmert sie vom mitgeführten Kalkschlamm
aus den Felsregionen nach einem Regen. Ist das Wetter trocken, wird sie
allmählich klarer. Auch die Wasser aus den Mooren sind klar, aber
ein wenig braun, und halten sich eine Weile getrennt von den anderen. Am
Ausgang des Tales drückt sie sich dann durch die Leutaschklamm, um
bei Mittenwald die Isar zu erreichen.
Ihr Bett ist gefüllt mit kalkigem Geröll. Das
scheint ihr zu gefallen. Dazwischen liegen ein paar große Brocken.
An den scharfkantigen schäumt sie spielerisch vorbei, über die
runden streicht sie leicht hinweg. Die Stufen rauscht sie hinunter. An
einigen Stellen haben die Menschen versucht, ihr mit Deichen Grenzen zu
setzen. Jetzt im Sommer stört sie das nicht. Auch wenn es stark regnet,
bleibt sie zwanglos in ihren Grenzen.
Der Städter aus dem Tiefland hält sie zunächst
für schmutzig: Das Wasser trüb, die Ufer unaufgeräumt. Wenn
er die Trübe sieht, denkt er an die vielzitierten "häuslichen
Abwässer" mit Spülicht und Waschmitteln. Die verwilderten
Ufer mit den großen Pestwurzblättern über dem Geröll
verbindet er mit angeschwemmtem Unrat: leeren Bierdosen, Plastflaschen
und allerlei anderen Abfällen.
Dann sieht er genauer hin und gesteht: die Trübe
ist reines, unverfälschtes Naturprodukt und die Ufer blieben ganz
ohne menschliche Zugaben. Trotzdem zögert er, sich auf eine der Bänke
zu setzen, die der Tourismusverband aufgestellt hat, weil sein städtischer
Instinkt auch nach der vernünftigen Erkenntnis noch immer den Gestank
menschlicher Absonderungen fürchtet.
Er setzt sich dann aber doch. Vor sich hat er die Hänge
und Schrofen des Wettersteingebirges, unten dunkelgrün vom Wald, darüber
hellgrün die Matten und noch weiter oben in hellem Grau der blanke
Fels mit weißen Schneeresten in Rinnen und Löchern, mit großflächigen
braunen Einlagen und den schwarzen Flecken der Wasseraustritte.
Im Rauschen des Flusses glätten sich seine Gedanken.
Sie schreiten dahin, geordnet in natürlichem Gang. Nur wenige zucken
noch jäh auf wie eine springende Forelle.
Die Höhen locken ihn. Er weiß um den gelösten
Frieden da oben, wenn nicht die Mühen und Gefahren schlechten Wetters
und fehlenden Proviants drohen. Er kennt die weiten Blicke hoch über
allen bedrückenden Kleinigkeiten des Alltagslebens. Er spürte
den frischen und befreienden Wind.
Er hat aber auch die Mühen der Aufstiege und die
oft noch größeren Anstrengungen der Abstiege erfahren. So schwankt
er zwischen Sehnsucht und Bequemlichkeit. Er ist noch nicht gar zu alt,
und das Bergweh ist noch immer stärker als die Furcht. Irgendwann
einmal wird ihn oben das schlechte Wetter überraschen (oder ist er
absichtlich hineingelaufen?). Er wird den Genuß des Sieges kennenlernen
oder die weise Ruhe einer überwundenen Niederlage. Oder es wird nichts
von seinen letzten Gedanken bleiben als die Eintragung in ein Gipfelbuch:
"Plötzlicher Schneefall."
Grünmilchig rauscht die Ache dahin und nimmt behutsam
auf, was die Menschen an ihren Ufern empfinden. Sie fließt. So wiederholt
sich ihr nichts, auch wenn es jahrhundertelang immer wieder gedacht worden
ist.

Wegweisen ist eine Kunst. Eine lange Erfahrung des Gewiesenwordenseins
gehört dazu, Weisheit und Charakter, die dem Anderen Schwächen
und Fahrigkeit zugestehen. Wegweisen macht verantwortlich für die
Leiden Irregehender.
In Zeiten, als es nur wenige Wege gab, genügte eine
Kerbe in der Rinde eines Baumes, um den Wanderer wissen zu lassen, daß
er sich nicht auf einem Wildwechsel befand. An den seltenen Kreuzungen
zog man die Himmelsrichtung zu Rate. Jeder wußte, wo die Sonne auf-
und wo sie unterging. In den Siedlungen konnte man einander fragen, denn
der Fremde war noch nicht Ziel von Spott und Haß, und er schirmte
sich nicht mit Glas und Blech von den anderen ab.
Als die Zahl der Straßen und Wege zunahm, mußten
sie gekennzeichnet und benannt werden. Besonders notwendig war das in den
unübersichtlichen Wäldern des Tieflandes. Wegzeichenschneider
versahen die Bäume mit ihren seltsamen Sigeln. Die Menschen leiteten
daraus bildhafte Namen ab.
Dann kamen Postmeilensäulen und Schilder auf. Damit
wurde eine Grenze überschritten: Die Reisenden mußten lesen
können.
Heute steht der Mensch wieder an einer Grenze, die er
aber wohl nicht überschreiten kann: Die Zeit, die er braucht, um ein
Wort zu lesen, aufzunehmen und zu verarbeiten. Die Schilder und ihre Schrift
werden groß. Das in den Irrgärten der Autobahnabzweigungen dahinrasende
Wesen muß sie früh genug lesen können, damit ihm ausreichend
Sekunden bleiben für die Entscheidung, was es tun will, wenn es sie
erreicht hat.
Der Wanderer, der noch nicht verdorben ist von der zerstörerischen
Hast moderner Fortbewegung, kann still vor einem Pfahl stehen, bedachtsam
die Schilder lesen und sein Gedächtnis und die Karte zu Rate ziehen,
kann in Ruhe die Markierungen betrachten und seinen Weg wählen. Ist
er geübt, wird er nicht irren.
Es sei denn, einer von Hastigen hat die Schilder angebracht;
ohne Verstand für die Feinheiten des Geländes, wo rechts nicht
einfach rechts ist und links nicht links, sondern beides eine Vielfalt von Richtungen; ohne zu bedenken, daß es gar nicht gleichgültig ist, woher man kommt, wenn man die Markierung erkennen und richtig deuten soll; ohne zu fühlen, daß für den Wanderer ein kilometerlanger Umweg auch ein stundenlanger ist und unter außergewöhnlichen Umständen der Tod.
Wegweisen ist eine Kunst. Und es ist wie bei jeder Kunst: Die Künstler beherrschen sie, den anderen kann sie nicht gelehrt werden.

Wege haben ein zähes Leben. Gebirge lenken seit jeher die Schritte des Menschen in Täler und Schluchten, auf Sättel und Pässe. In den Niederungen bestimmen Sümpfe, Flußläufe und Furten den Verlauf von Weg und Steg. Auch heute, wo die Technik mit der rohen Gewalt ihrer Tunnel, Brücken und Einschnitte der Natur gerade Linien aufzuzwingen versucht, werden alte Verbindungen noch erkannt und verwendet. Selbst in den von Bauleuten und Bomben umgewühlten Städten bleiben Straßenführungen über Jahrhunderte erhalten.
Auf diese Weise wurde die Dresdner Heide ein von Wegen zerfurchter Wald. Immer wieder neue Verbindungen zwischen Siedlungen wurden geschaffen, neue Steige für die Jagd, neue Pfade für die Waldarbeiter, neue Abfuhrmöglichkeiten für das Holz. Sogar zur Gliederung und Verwaltung des Bestandes schlug man Schneisen und Flügel. Aber immer blieben dort, wo der Wald erhalten blieb, auch die alten Linien bestehen. Wenige nur verwuchsen. Lediglich ein paar hundert Meter wurden bewußt überpflanzt.
Der älteste Weg in der Heide ist der Rennsteig, mit
dem Diebssteig als Nebenarm. Seit der Steinzeit wird er benutzt. Die alten
Germanen kannten ihn und verloren auf ihm manches, was heutzutage wiedergefunden
wurde und ihre Anwesenheit in der grauen Vergangenheit bestätigt.
Dann war er Teil einer alten Salzstraße aus der Hallenser Gegend
ins Böhmische, die klüglich die Niederungen mit ihren Städtegerechtsamen,
schlammigen Straßen und Wegelagerern vermied.
Später, im Mittelalter, entstand eine neue Verkehrsader:
der Bischofsweg. Er verband den Bischofssitz Meißen mit der bischöflichen
Burg Stolpen und umging sorgfältig das Weichbild des markgräflichen
Dresden. Im Jahre 1559 heimste Vater August, der Kurfürst, Stolpen
ein. Mutter Anna, seine Frau, begann im Seigerturm ihre Lehrküche
für Bäuerinnen zu betreiben, mit ihrem dänischen Verstand
für wohlfeile und wohlzubereitete Speisen. Aber der Bischofsweg blieb.
Über die vielen kleineren Verbindungen, die sich
die Menschen damals in der Heide schon geschaffen hatten, wurde ein Spinnennetz
gespannt: die Stellflügel und Treiberwege des Dresdner Saugartens,
den Vater August hatte anlegen lassen. Strahlenförmig gingen von der
Helle die heute noch begehbaren Flügel aus, die verbunden wurden durch
die konzentrischen Kreise der Treiberwege. Es scheint das Spielwerk eines
Mathematikers zu sein: ein Polarkoordinatensystem. Mit Ziffern an den Achsen
und Kreisen, nicht mehr mit den alten geheimnisvollen und verworren deutbaren
Wegzeichen.
Dreihundert Jahre später versuchte sich ein anderer
nochmals auf die mathematische Art: Cotta. Der nun nahm ein kartesisches
System mit Buchstaben für die Flügel und Ziffern für die
Schneisen.
Dazwischen geschah vielerlei: Die Schweden drangsalierten
die Heidedörfer im Dreißigjährigen, die Preußen schossen
tausende Stück Wild im Siebenjährigen Krieg. Die Kurfürsten
wurden Könige und wieder Kurfürsten und wieder Könige und
wieder Kurfürsten und wieder Könige. Und der Moritzburg-Pillnitzer
Weg wurde gebaut zwischen dem Jagdschloß und der Sommerresidenz,
eine frühe Umgehungsstraße um das zeitraubende Dresden herum.
Heutzutage sieht nun die Karte der Heide aus wie ein Schnittmusterbogen,
dessen Linien zu den Teilen der Kleidungsstücke gehören wie die
Steige, Wege und Straßen zu den Ständen der Epochen. In einem
Netz von Verbindungen hat der Mensch den Wald gefangen und sich dienstbar
gemacht.

Medienmordkrimiwirksam ist das Saugartenmoor in der Dresdner Heide beileibe nicht. Wenn ich den Wissenschaftlern glauben würde, müßte ich sogar sagen, daß es gar kein echtes Moor ist. Zwar befindet es sich auf dem besten Wege dahin, eines zu werden - immerhin steht es seit fünfundzwanzig Jahren unter Naturschutz - aber sein Ziel hat es noch lange nicht erreicht.
Einer seiner Freunde wollte alles genau wissen und hat
es ausgemessen. Dann schrieb er: "Dieses Moor hat eine Größe
von 75 m x 60 m und eine Tiefe von maximal 2,85 m." Na also,
kein halber Hektar. Und auch der Klumpen Trinitrotoluol, dessen Sprengkraft
einer Hiroshima-Bombe entspräche, fände nicht genügend Raum
in ihm.
Von solch menschlichen Dingen weiß es trotz langen
Lebens und vielfältiger Erlebnisse glücklich nichts. Es stammt
aus einer Mulde, die sich in der Eiszeit gebildet hat, besitzt ein weiches
Bett aus Sand, und gut mit Bäumen getarnte Wälle aus hohen Dünen
schützen es. Seit vierhundert Jahren hat es sich durch alle Trockenlegungen
in der Heide durchmogeln können. Auf den alten Plänen heißt
es noch "Saugartenteich". Nun will es etwas Feineres werden.
Zu einem Flachmoor wird es wohl fürs erste reichen.
"Moor" nennen es auch schon die neuesten Karten.
Interessierte Fremde suchen gelegentlich nach ihm und finden es meist nicht,
obwohl es tatsächlich dort liegt, wo es eingezeichnet ist: nahe am
Mittelpunkt der Heide im Geviert zwischen der Alten Acht, der Alten Eins,
dem Topfweg und der Schneise 12. Diese schnippische junge Schneise ist
erst hundertsechzig Jahre alt. Aber die anderen sind alles altehrwürdige
Wege aus den Hohen Zeiten Sachsens, als im Saugarten wirklich noch wilde
Sauen als Vorrat für die kurfürstlichen und königlichen
Treibjagden gehalten wurden. Am Herrenhause, das der Zwingerbaumeister
Pöppelmann errichtet hatte, trafen sich acht numerierte Wege. Vom
Hause liegen nur noch Dielensteine da, aber die Wege hatten Bestand. Ein
Gedenkstein steht am Kreuzungspunkt, eine Schutzhütte und ein Wald
aus Buchen, der den Boden knöchelhoch mit Laub bedeckt. So findet
der Ungeübte im Gewirr der Spuren wohl die Alten Eins, Drei, Vier
und Fünf, die heutzutage oft begangen sind, aber die Acht übersieht
er gewöhnlich.
Ich biege lässig in sie ein, damit niemand vermuten
kann, daß ich vor Jahren an dieser Stelle mürrisch mit Karte
und Kompaß hantiert habe. Der Weg ist bald deutlicher sichtbar, von
dort an nämlich, wo er die Buchen hinter sich läßt und
zwischen Kiefern verläuft. Er steigt ein wenig an, fällt dann
wieder ab, bleibt aber immer oben auf der uralteiszeitlichen Düne,
die ich einst für einen Damm hielt. Hat der Fremde einen schlechten
Tag erwischt und sinniert über den gefallenen DAX, so läuft er
fünfzehn Meter am Moor vorbei, ohne es zu bemerken. Wenn er die Karte
richtig lesen kann, wundert er sich am steilen Abstieg ins Prießnitztal,
sonst aber erst auf der Brücke. Ich natürlich sehe es rechts
unten zwischen den Bäumen und auch die holzgeschnitzte, verwitterte
Tafel am Wege, die weit über Augenhöhe an einen Baum genagelt
ist.
Entrindete Stämme bilden ein Geländer und schützen
Moor und Menschen voreinander. Ein schmaler Steg führt drei Meter
über den Morast, damit der Kundige, mühsam auf Knien rutschend
und die Brille gebrauchend, den berühmten Sonnentau sehen kann. Umrahmt
von Fichten und Erlen ruht eine schwarze, unbewegte Wasserfläche,
in deren Mitte Schilf träumt, falb: nicht gelb, nicht braun, nicht
ocker. Vielleicht: weiß, auf das ein brauner Lichtschein fällt.
Um das offene Wasser herum wächst der Torf unter grün-braunem
Moos, breit gesäumt von heufarbenem Gras. Ein Vogel zirpt scharf.
Ich setze mich unter den Farn auf den Rand eines Erdloches, stelle den
Rucksack neben mich, hole Schwarzbrot mit Butter heraus, gieße Rotwein
in den Blechbecher und denke nach.
Warum eigentlich? Noch immer scheint der Tod geheimnisvoller
als das Leben. Das Moor erinnert an den Tod. Wo aber denkt man an das Leben?
Dieses Versäumnis kann tödlich sein, für mich, für
alle.

Es pfiff, und alle anderen verschwanden.
"Salam alaikum!" rief ich, "Friede sei mit euch! Auf ein Wort in Ruhe!" Der Wachhabende auf der Gaistalalm reckte sich auf und beäugte mich eingehend. Dann winkte er mir, näher zu treten.
"Ich gebe Ihnen zwanzig Schilling, wenn ich Sie dafür in aller Ruhe fotografieren darf."
Mißtrauisch starrte das Murmeltier auf meinen Fotoapparat.
"Komische Marke", sagte es und schien nach einer verborgenen Stelle zu suchen, mit der vielleicht richtig geschossen werden konnte.
"Aus Ostdeutschland", sagte ich.
"Ach so. Na gut. Aber bitte in Münzen. Scheine
verrotten bei mir."
Wieder pfiff es. Ein Kumpel von ihm tauchte auf und
übernahm die Wache. Ich fotografierte und zahlte mit vier nickelglänzenden
Fünfschillingstücken.
"Ruhiger Abend heute", versuchte ich das Gespräch
fortzusetzen.
"Gott sei Dank. Die Schulferien sind endlich vorbei.
Wochenende ist auch nicht. Heute früh hat's a bisserl geregnet. Da
ist niemand zur Rotmoosalm hinauf. Und die Korona, die sich vom Parkplatz
die vier Kilometer herschleppt und in der Hütte unten fressend und
saufend verschnauft, steigt nicht noch die vierzig Meter hierher."
"Ich dachte, Sie seien für Fotopoints engagiert?"
"Bewahre", murmelte es, "die Wirtsleute
können uns nicht leiden, wegen dem bisserl Geröll aus den Wohnungen.
Auf der Alm sind die Kühe viel anziehender. Auch wenn man sie nicht
sieht, bimmeln die, daß einem der eigene Pfiff fremd vorkommt. Aber
bimmeln gehört zur Alm, haben die Touristen irgendwo gelesen. Also
gibt es außer den Pferden, die das Geld einbringen, aber für
die Glocke zu stolz sind, auch ein paar junge Rinder. Murmeltiere sind
scheu, haben die Touristen gelesen. Also braucht's keine Murmeltiere. Und
das Geröll stört die Lieblichkeit der Wiese, meint die Wirtin."
"Ziehen Sie doch ein Stück höher hinauf",
schlug ich ihm vor. "Das ist nicht so einfach", wehrte es ab.
"Da steht erst mal Wald, engt uns das Blickfeld ein. Noch höher
kommt die Rotmoosalm. Eine richtige. Aber die ist schon voll von unseren
Kumpels. Außerdem ist es dort viel kälter als hier. Das sind
wir nicht mehr gewohnt."
"Ich werde mal mit der Wirtin reden", versprach
ich ihm.
"Zwecklos", murmelte es, pfiff der Wache etwas
zu und tauchte in seinen Bau.
Es war wirklich zwecklos, mit der Wirtin zu reden. Sie
jammerte erst über die Geröllhaufen, dann über die Bauern,
die ihr die Hütte nur verpachtet hatten und in ein elektrisches Kabel
nicht investieren wollten, dann über die Gäste, die ungläubig
an die Glühstrümpfe der Propangaslampen über den Tischen
tatschten und sie zerquetschten, das Stück für fünfzig Schilling.
"Wenn die Leute unbedingt Murmeltierfotos wollen,
kann ich ihnen auch ein ausgestopftes in die Wiese setzen", sagte
sie und hatte recht.
So bekam ich einen weiteren Grund dafür, daß ich frühmorgens immer zusah, schnell über die tausendsechshunderter Höhenlinie zu kommen. Wo es möglich war, fuhren da zwar manchmal Landrover hoch, von den Bundesforsten oder der Bergrettung oder den Pächtern der Almhütten dort oben. Die aber paßten ins Bild und störten mich nicht.

Das Murmelfoto verschaffte mir einen unerwarteten und lästigen Erfolg. Es war in aller Ruhe und aus nächster Nähe aufgenommen worden. Das sah man ihm an. Ich geriet in den Ruf eines Murmeltierexperten. Weil ich nicht gar zu hilflos meinen Bewunderern ausgeliefert sein wollte, las ich im Winter alles, was über diese Tiere gedruckt worden war und ich mit geringer Mühe erreichen konnte. Dabei verwunderte mich eines: Die Äußerlichkeiten der Tiere waren bis ins kleinste beschrieben, zwar nicht immer gleich, doch wohl voller Überzeugung. Aber das, was eine gute Berichterstattung kennzeichnet, hatte niemand vollbracht. Keiner der Autoren hatte auch nur ein Wort mit einem Murmeltier gewechselt.
Endlich wurde es Juli. Die Tiere hatten sehr wahrscheinlich
ihren Winterschlaf beendet. Ich fuhr ins Gebirge, um mit ihnen zu reden.
Zunächst besuchte ich mein Bekanntes auf der Gaistalalm.
Es freute sich über das Foto, nahm es aber nicht an, wegen der Feuchtigkeit
in seinem Bau. Dann begann ich, es über seine Lebensverhältnisse
auszufragen. Aus irgendwelchen Gründen redete es nur zögernd
und um meine Fragen herum, wobei es sich aufmerksam nach allen Seiten umsah.
Ich hörte nichts Eindeutiges heraus. Schließlich verwies es
mich auf die Rathäusler, die oben auf der Rotmoosalm säßen.
Es versprach, einen Termin mit ihnen zu beschaffen.
Wirklich: Am nächsten Morgen nannte es mir Tag und
Stunde, wo ich in eindeutig ungefährlicher Haltung auf der Bank am
Niderle sitzen sollte. Ich fand mich dort pünktlich ein und versuchte,
jede Bewegung zu vermeiden, die hätte verdächtig sein können.
Die Wachen ließen mich gewähren, ohne sich zu beunruhigen.
Wie das erste herangekommen war, habe ich nicht bemerkt.
Es saß plötzlich ein paar Meter rechts vor mir und sah mich
mit Augen, die wie durch eine Brille vergrößert wirkten, offensichtlich
belustigt an. Diese Augen, eine hohe Stirn, eine lange Nase und volle Lippen
machten, daß es ausgesprochen jüdisch aussah. "Ein Linkes",
dachte ich, "denn es sitzt rechts von mir."
Wie ich es noch betrachtete und ihm freundlich zulächelte,
hockte sich ein anderes neben ihn, leicht zerzaust, schlaksig, den Vorwurf
ewigen Unverstandenseins im Gesicht, was eigenartig dem dümmlich-zynischen
Ausdruck seiner Augen widersprach.
Und auch links von mir klirrten ein paar Steinchen. Ein
eigenartig knochiges Wesen ließ sich dort nieder, den Kopf ganz kahl,
riesige Füße, das Fell gemustert, als wolle es sich von seiner
Umgebung nicht abheben. In einer Wiese wäre das auch richtig gewesen.
Auf dem steinigen Untergrund aber fiel es erst recht auf.
Sie saßen da und warteten. Das Linke sah mich nachdenklich
und lächelnd an. Das Zersauste bewegte nervös die Vorderpfoten
und raschelte mit trockenen Grashalmen. Das Rechte stierte scharf an mir
vorbei irgendwohin auf die Felsen.
Ich wußte nicht so recht, was ich tun sollte. Sie
waren dazugekommen, also hätten sie grüßen müssen.
Sprach ich sie jetzt an, erschraken sie vielleicht und stoben davon.
Als ich mich gerade durchgerungen hatte, trotzdem den
Mund aufzutun und zu reden, bemerkte ich im Hintergrund eine langsame,
aber durch ihre Achtsamkeit bedeutende Bewegung.
Mit langen, ungelenken Schritten, die offenbar Rüstigkeit
vortäuschen sollten, kam ein großes, gewichtiges Murmeltier
heran. Sein Fell glänzte zwar, zeigte aber auch die tiefe Schwärze
hochgradiger Melanose. Selbst das von Tratz zuerst beschriebene Zittern
glaubte ich zu bemerken. Aber das konnte eine Täuschung in der zunehmenden
Dämmerung sein.
Das Schwarze baute sich zwischen dem Zerzausten und dem
Knochigen auf und hob zu einer Rede an:
"Ich begrüße Sie herzlich in der Murmelrepublik
Rotmoos und wünsche unserer Zusammenkunft einen gedeihlichen Erfolg."
Dann gab es ein umfangreiches Statement ab.
Seine Stimme tönte hohl, so, als wäre sein großes
Inneres vorwiegend mit Luft gefüllt. Ich konnte mir nicht klar darüber
werden, ob ich den Klang auch auf den Inhalt seiner Worte übertrug,
oder ob es tatsächlich eine nichts sagende Rede hielt. Jedenfalls
verlor es sich manchmal in Redewendungen, die einer Formelsammlung entnommen
zu sein schienen. So sagte es über die Zukunft seiner Leute:
"Wenn ich die Augen schließe, so sehen wir
vor uns blühende Matten mit den bequemen und sicheren Bauen unserer
Gefolgschaft."
Das "Wir" konnte einfach ein Pluralis majestatis
sein. Oder es nahm an, daß durch die zwingende Wirkung seiner Person
alle anderen das gleiche sehen müssen, was auch es selbst mit geschlossenen
Augen sah. Oder es hatte eben aus einem Handbuch für Redner zwei Wendungen
entnommen und aneinandergefügt, ohne auf die Grammatik zu achten,
in nachlässiger Verachtung seiner Zuhörer.
Trotz der Hohlheit konnte ich seinen Worten entnehmen,
daß Rotmoos zu einer Genossenschaftei Ostmark gehörte, daß
die menschlichen Landesgrenzen ungefähr auch denen zwischen Murmeltiernationen
entsprachen, daß die Beziehungen zwischen den Völkern manchmal
mehr, manchmal weniger belastet waren, daß es mühsam verhüllte
Gebietsansprüche gab und daß Rotmoos die am besten regierte
Murmelrepublik der Welt sei.
Nach dem Ende seiner Rede bot es mir an, Fragen zu beantworten.
Die anderen Drei hatten bisher nichts geäußert, und das Schwarze
schien sie als unbedeutendes Gefolge anzusehen. Aber bei seinen gewundenen
Auslassungen zu den Gebietsansprüchen war das Knochige lebhaft geworden,
was mich veranlaßte, zunächst nach den Verbreitungsabsichten
der Murmeltiere zu fragen.
Ehe das behäbige Schwarze seine Gedanken gesammelt
hatte, belferte das Knochige los: "Murmeltiergebiet sind die Pyrenäen,
Südfrankreich, Norditalien, Süddeutschland. Im Geiste unseres
Volkes ist das alte Gebiet Murmeltierland auch heute. Wir wollen zurück
in unsere alte Heimat, aus der wir vertrieben worden sind."
"Wann war denn das?"
"Im Diluvium."
Als das Linke mein ratloses Gesicht sah, erläuterte
es: "Pleistozän. Eiszeitalter. Vor etwa zwei Millionen Jahren."
Das Schwarze errang mühsam das Wort und widersprach:
"Die gegenwärtigen guten Beziehungen zu unseren Nachbarn verbieten,
daß wir Gebietsansprüche erheben. Freundschaft zu den Nebenvölkern
in der Tierischen Union bestimmt unser Tun und Handeln."
"Zum Schwarzwald seid ihr doch schon vorgedrungen",
sagte ich.
"Das haben die Vereinten Menschen gutgeheißen",
entgegnete das Schwarze. Das Knochige murmelte pathetisch: "Sie sehen,
nur wir vertreten die wahren Interessen der Nation."
Das Zerzauste wandte ein: "Habt ihr denn genug Gefolgschaft,
um das alles besiedeln zu können?" und das Linke: "Ihr wollt
doch nur mit dem Grundbesitz schachern. Sind denn auch Bobaks schon in
Thüringen?"
"Was sollen denn die Bobbies dort?" fragte der
Rechte zurück.
"Ihr altes Siedlungsgebiet." Das Linke fing
an, mir zu erläutern: "Bobaks sind auch welche von uns, machen
aber alles ganz anders. Sie sind sehr unterschiedlich. Es kommt darauf
an, wo sie her sind. Es gibt große und kleine, dicke und dünne.
Sie sind einfarbig. Aber alle haben längere Schwänze als wir
und weiße Zähne. Unsere Weiber gucken immer ganz unanständig,
wenn von ihnen die Rede ist, und manche sind scharf auf sie."
Ich fragte nach den Nachbarn. "Hinter dem Grat wohnen
Deutsche", sagte das Linke, "Häuslebauer."
"Unsere nördlichen Nachbarn sind wirtschaftlich
stark und können sich Prachtbaue leisten", unterbrach ihn das
Zerzauste und sprach weiter mit zweideutigem Lächeln: "Sie sind
sehr sauber und ordentlich. Das Geröll haben sie weggeräumt."
Die grinsenden Augen des Linken wanderten zu einer Scharte, von der offenbar
Massen von mittelgroßen Steinen auf die Rotmoosalm geworfen worden
waren. "Alles warm ausgekleidet."
Das Schwarze lenkte ab: "Unsere Brüder und Schwestern
im Osten haben unsere Hilfe dringend nötig. Besonders denke ich an
die Tatraner, die eingegrenzt auf kleinem Gebiet sitzen."
"Geschützt im Nationalpark", wandte das
Linke ein.
"Aber sie sind unfrei. Wir müssen uns mit ihnen
wiedervereinigen, damit sie aufblühen ..."
"... und wir sie ausbeuten können." Das
Schwarze warf eine verächtlich sein sollenden, doch eher giftigen
Blick auf das Linke. Dies aber lächelte ihm freundlich zu.
"Weiter östlich wohnen die Brüder und Schwestern
bis nach Kamtschatka. Auch sie müssen aus ihrer Lage befreit werden."
Das Linke grinste schon wieder, als könnte es meine Gedanken lesen,
die sich damit beschäftigten, aus welcher Lage die Ostmurmel heraus
und in welche hineingebracht werden sollten. Dann warf das Knochige ein:
"Bobbies sind auch Mitmurmel. Aber sie stinken und
verbreiten Pest und Cholera. Sie leben in der Steppe, fressen den Menschen
die Felder kahl und werden von ihnen abgeschossen. Das Volk will sie nicht."
Das Schwarze tönte wieder: "Alle Murmel sollen
in einer glücklichen Welt leben. Die Murmelrepublik Rotmoos wird helfen,
die Probleme zu lösen und dann eine führende Rolle haben, blühen
und gedeihen. Dafür werden wir wirken ..."
"... bis zu Ihrem wohlverdienten Ruhestand",
unterbrach ihn das Linke.
"Wann ich abtrete, bestimmen die Wähler und
nicht die Opposition", tönte das Schwarze.
"Die Vorsehung!"
"Der Liebe GOtt!"
"Der Sensenmurmel!"
Die anderen murmelten so laut durcheinander, daß
es fast wie Zwischenrufe klang. Das Schwarze wandte sich dem Linken zu
und strebte mit schlaksig-langen Schritten zu ihm hin. Das Zerzauste, das
zwischen beiden saß, fühlte sich versehentlich angegriffen und
stellte sich ihm entgegen. Dadurch gelang es dem Rechten, das Schwarze
ins Hinterteil zu beißen, was es ursprünglich nur vortäuschen
wollte und wovon es nun selbst überrascht war. Eine von den Wachen
mißdeutete das Durcheinander - oder auch nicht - und stieß
einen Warnpfiff aus. Meine Gesprächspartner stoben auseinander, und
ich staunte, mit welcher Geschwindigkeit das ungelenke Schwarze unter der
Erde verschwand.
Wie gut, daß wir die Sprache der Tiere nicht verstehen. Sonst würden die letzten Reste des Glaubens an die sanfte Gewalt der Vernunft endgültig dahinschwinden.

Erst als ich näher kam, wurde mir bewußt, daß
die beigefarbenen Tiere, die unter den hohen Fichten beim Gaisbach auf
der Hämmermoosalm merkwürdig klein wirkten, nicht Kühe waren,
wie es mein Gehirn gewohnheitsmäßig registriert hatte, sondern
Pferde. Sie standen mit den Köpfen zum Dickicht zu und zeigten der
Wiese und mir ihre hellen Hinterteile mit den leicht gekräuselten
Schwänzen. Was sie da machten, konnte ich nicht erkennen. Man hätte
meinen können, sie starrten auf ein Fernsehgerät oder dösten
auf andere Weise vor sich hin.
Ich ging langsam auf sie zu, nicht zu leise, damit sie
nicht plötzlich erschraken und wegtrabten, aber mit fast unterwürfiger
Freundlichkeit und einer gewissen Selbstironie, wie es ein österreichischer
Gaul sicher gern haben mußte.
Als ich näher kam, stelzten sie davon, scheinbar
ohne mich zu beachten, bis auf eines, das stehen blieb und mir sein rechtes
Auge zuwandte.
"Guten Tag, Herr Haflinger", sprach ich ihn
an, "schönes Wetter heute, nicht war?"
"Habe die Ehre", gab er zurück, "man
hat's nötig. Sein S' auch im Urlaub hier? Wo kommen S' denn her?"
"Aus Dresden."
"Viele Autos, was?"
"Ja."
"Bei uns in Wien auch. Den Gestank hält keine
Pferdenatur auf die Dauer aus. Wir sind hier zur Kur."
"Reine Luft und Ruhe. Aber doch wohl ein ungewohntes
Klima?"
"Das Klima ist gut für den Kreislauf. Mehr Abwechslung.
Nachts ist es manchmal recht kühl. Aber das macht nix. Wir rücken
einfach näher zusammen. Aber die Ruhe, die belastet. Hören S'
was?"
Er blickte mich fragend an. Ich nickte. Das Wasser im
Gaisbach unten schoß über die Steine.
"Erst hab' ich gedacht, 's ist die Autobahn drüben
am Inn, was da rauscht. Es war aber der Bach."
"Wozu", sprach er dann, "braucht der Mensch
so viele Autos? Als der Beethoven noch lebte und der Schubert, da hatte
es auch keine. Was für Werke haben die beiden geschaffen, welche bemerkenswerten
Leute haben sie kennengelernt, wie nachhaltig haben sie ihr Zeitalter erlebt!
Gut, der Mozart hätte sicher gern eins gehabt, ein großes, zum
Protzen. Aber hat der Beethoven nicht die Neunte geschrieben und war kein
Mal auf Mallorca? Heute war jeder dort. Auch der Benes Xaver, was mein
Kutscher ist. Na gut, der schreibt auch keine Sinfonien."
Seltsam ist es, wie so ein Pferdekopf denkt. Meint er
nun, der Verkehr hat so zugenommen, weil es keine Größe mehr
gibt, oder beschuldigt er den Verkehr, keine Größe mehr zuzulassen?
"Überhaupt", sprach Herr Haflinger weiter,
"alle Autos und Telefone und andere Hastprodukte braucht's doch nur,
weil das Menschengehirn nicht mehr bis zum Ende durcharbeitet. Sonst würde
ein kurzer, sachlicher Brief genügen, zwei, drei Geschäftsbesuche
beim Partner in einem ganzen Menschenleben. Alles liefe stetig, ohne das
zerstörerische Auf und Ab, Hin und Her, Vor und Zurück. Keine
hochgespitzten Gewinne würde es mehr geben, das ist richtig. Aber
auch keine abgrundtiefen Verluste. Das Leben würde sein wie ein Wald."
Auch ich stand nun mit dem Rücken zur Wiese und starrte
gedankenverloren in das Dickicht. Schließlich riß ich mich
doch noch zusammen:
"Aber es ist auch vieles besser geworden seither.
Apfelsinen kann man haben zu jeder Jahreszeit, auch sonstige Waren aus
aller Herren Länder. Man weiß, was überall auf der Welt
geschieht, wie morgen das Wetter wird, wen die Großen dieser Welt
lieben. Wenn ein Unglück eintritt, wird umgehend geholfen. Verwandte
und Freunde kann man schnell aufsuchen."
"Schau'n S' genau hin", sagte er und hob verächtlich
die Oberlippe, so daß ich seine großen gelblichen Zähne
sehen konnte. "Das, was hier ankommt, sind schon lange keine richtige
Apfelsinen mehr, aber Äpfel aus einem guten Keller sind ordentliche
Äpfel. Und sind unsere Handwerker nicht genauso gut wie alle anderen?
Warum dann Sachen rund um die halbe Erde transportieren? Und was nützt
es, wenn Sie wissen, was in fernen Ländern geschieht? Können
S' eingreifen oder ändern, wenn sich die Menschen abschlachten wie
sonst keine Tierart untereinander? Der Wetterbericht? So genau ist er doch
nie, daß Sie wissen, wie Sie sich kleiden sollen und was Sie tun
können. Und warum soll man plötzlich eilig helfen müssen,
wenn man hätte mit Voraussicht das Unglück verhindern können
oder die Nachbarn eingreifen könnten, wenn sie wollten? Viel zu nachlässig
macht den Menschen die Aussicht auf schnelle Hilfe. Lauschen 'S doch mal
auf dies Gejaule der Rettungswagen den ganzen Tag über in den Straßen.
Soviel Unglück und Not sollen sich nicht vermeiden lassen? Und je
öfter Sie Freunde und Verwandte aufsuchen, desto häufiger gibt
es Krach, und die Gefahr wächst, daß Sie auf dem Wege dahin
an einem Straßenbaum sterben. Saldo: Lärm, Gestank, Hast und
Tod. Alles für die Katz, mit Verlaub gesagt, ich kenne nämlich
sehr angenehme Katzen."
Ich raffte mich auf.
"Nun gehen S' auf den Höhenweg, ich seh' es Ihnen an. Da macht's Sie dann froh, daß Sie mal ein Weilchen zweitausend Meter über allem sind."
"Auf Wiedersehen", sagte ich.
"Habe die Ehre", erwiderte Herr Haflinger.

Paul und Maximilian stiegen nun schon zum zweiten Male in dieser Woche auf die Wangalm hinauf. Paul dachte mit leichter Furcht an den Rückweg. Da würden seine Knie wieder elend schmerzen. Maximilian, sein Enkel, dem man die Märchen noch vorlesen mußte, hoppelte leichtfüßig neben ihm her, obwohl er diesmal den kleinen Rucksack mit seinen Wettersachen und seiner Trinkflasche trug.
Die Sache hatte sich Paul selbst eingebrockt. Nun mußte
er sie auch auslöffeln. Er hätte es wissen müssen, daß
so ein kleiner Mann Ironie und Mystifikation nicht versteht. Maximilian
hatte es jedenfalls ernst genommen, als Paul behauptete, die Wirtin gäbe
den Alpendohlen ein Zeichen, wenn sie Kaiserschmarren serviert, und dann
Erklärungen dafür zusammenspann, warum sie das tat. Ein Grund
konnte sein: Sie ist eine Hexe, und die Vögel helfen ihr bei der Zauberei,
sind Boten zwischen ihr und dem Teufel und tragen ihr auch sonst geheime
Botschaften zu. Oder aber: Sie haben gedroht, den Gästen auf der Terrasse
so einiges unter ihren Schwänzen hervor auf die Teller und in die
Gläser fallen zu lassen, wenn sie nicht genügend Kaiserschmarren
bekämen.
Maximilian hatte verständnisvoll und gläubig
genickt. Das Erlebnis vorgestern war beweiskräftig genug. Die anderen
Gäste auf der Terrasse hatten Getränke und Suppen vor sich stehen.
Keiner dieser schwarzen Vögel war zu sehen gewesen. Maximilian hatte
Kaiserschmarren essen wollen.
Er wußte zwar nicht, was das ist. Aber der Name
reizte seine Einbildung. Kaiser war etwas sehr Feines und Schmarren etwas
sehr Lustiges. Etwas Feines und etwas Lustiges zusammen, das mußte
doch etwas Gutes sein!
Kaum war der Kaiserschmarren gebracht worden, standen
drei oder vier Alpendohlen mit ihren roten Beinen auf der Brüstung
und reckten ihre feinen gelben Schnäbel. Ein halbes Dutzend andere
kreisten in der Luft. Also mußten sie herbeigerufen worden sein!.
Und die Portion war groß genug , daß sie für Maximilian
und die Vögel reichte.
Daß die Wirtin eine Hexe war, konnte man sich gut
denken. Denn sie hatte eine gar zu lange Nase. Dagegen sprach allerdings,
daß sie ziemlich jung war und die beiden Kinder in der Hütte
Mama zu ihr sagten. Paul meinte allerdings, gerade die jungen Hexen wären
die gefährlichsten und Kinder müßten auch da sein, wo kämen
denn sonst immer wieder die Zauberer und Hexen her?
Jedenfalls hatten Großvater und Enkel den Vögeln
von dem Kaiserschmarren abgegeben, und diese hatten sich mit Anstand bedient:
sachlich, sauber, unaufdringlich, ohne eigentlich zu betteln und angemessen
dankbar.
"Wo schlafen sie eigentlich?" fragte am Abend
im Bett Maximilian. "Da oben im Teufelskopf, in Löchern",
antwortete Paul und freute sich sehr, daß man dort nicht hingehen
konnte.
"Und was für ein Zeichen gibt die Wirtin?"
Paul hob die Schultern. Maximilian überlegte und
schlief darüber ein. Am nächsten Morgen verkündete er:
"Sie steckt hinter der Hütte eine dunkelgrüne
Fahne an einem braunen Stock aus dem Fenster!"
Da begann Paul Schlimmes zu ahnen. Und wirklich: Nun stiegen
sie zum zweiten Male in dieser Woche auf die Wangalm hinauf. Oben setzte
sich Paul auf die Terrasse, dicht an die Brüstung.
Maximilian ging durch die Gattertür. Sie stand offen,
denn das Vieh war schon ins Tal getrieben worden. Er trabte vorbei an dem
Brunnentrog und hinter der Hütte ein Stück die Matte hinauf.
Neben dem Kreuz und der Gedenktafel für die toten Schäfer wölbte
sich ein Felsbrocken aus der Grasnarbe. Auf ihn setzte er sich, denn von
hier aus konnte er die Rückseite der Hütte leicht und vollständig
überblicken. Großvater würde Kaiserschmarren bestellen.
Der Junge wartete auf das Signal.
Aber nichts war geschehen, als es plötzlich in der
Luft unhörbar sauste wie von einem höllischen Sturme. Die Dohlen
kamen im Sturzfluge heruntergeschossen, fingen sich gewandt dicht über
der Matte ab und schwebten leichthin über das Dach. Da wußte
Maximilian, daß der Großvater seinen Kaiserschmarren bekommen
hatte und ging zurück auf die Terrasse. Trübselig schüttelte
er den Kopf, als Paul ihn fragend ansah.
Was sollten sie noch tun? Paul aß und Maximilian
und die Dohlen bekamen einen Anteil ab. Dann stiegen die beiden Träumer
wieder zur Leutasch hinunter, Paul Schritt für Schritt und den Schmerz
verdrängend, Maximilian leichtfüßig und die Langsamkeit
des Großvaters zu allerlei Abschweifungen mit Füßen, Worten
und Blicken ausnutzend.
Zwei Tage später war Sonntag, und es gab in ihrer
Pension außer dem gewöhnlichen Frühstück für
jeden noch ein Stück Kuchen. Paul mochte Kuchen nicht so sehr und
zum Frühstück schon gar nicht. Auch sein Enkel hielt sich lieber
an Wurst, Käse und Brötchen. Dann starrte er das Kuchenstück
eine Weile an und fragte schließlich: "Opa, mögen die Dohlen
auch Kuchen?" Sie packten die beiden Stücke in Papierservietten
und Paul begann, sich vor seinem dritten Abstieg von der Wangalm zu fürchten.
Diesmal waren eine Menge Leute da. Die meisten aßen
Speckknödel, niemand Kaiserschmarren. Von den Dohlen war nichts zu
sehen. Paul bestellte Milch für sie beide. Maximilian fingerte vorsichtig
einen Brocken Kuchen aus dem Rucksack und legte ihn verstohlen auf die
Brüstung. Erschrocken spürten alle das unhörbare Sausen,
und dann standen da die Schwarzgefiederten, Gelbschnäbeligen und warteten.
Als der Junge beinahe seinen ganzen Kuchen verschenkt
hatte, schrie jemand entsetzt auf. Dann folgte ein lautes berlinisches
Gezeter. In eine der Speckknödelsuppen war etwas Grauweißes,
Glitschiges geplumpst. Paul freute sich, daß er schon bezahlt hatte,
nahm Rucksack und Enkel und verschwand mit ihnen die Alm hinauf.
Dann saßen sie auf der Bank am Scharnitzjoch und
gaben den Vögeln die Reste ihres Kuchens. Von hier aus konnten sie
bequem beobachten, wie der Schwarm durch die Luft segelte, den Auftrieb
an der warmen Felswand nutzte und seine Aufklärer über der Hütte
im Auge behielt.
"Im Winter müssen sie bis nach Innsbruck fliegen,
um was zum Fressen zu ergattern", sagte Paul, "aber abends kommen
sie immer wieder zurück."
Maximilian, der eine Weile neidisch nach den Nisthöhlen
im Teufelskopf gespäht hatte, erinnerte sich an den Abendbrottisch
daheim mit Brot, Wurst, Tee, der rotkarierten Decke und wurde nachdenklich.
Zu Hause nach dem Urlaub wollte niemand glauben, daß
der lauffaule Junge drei Mal auf die Wangalm gestiegen sein sollte. Maximilian
sagte nichts dazu, dachte an das unhörbare Sausen, die feinen gelben
Schnäbel und die stillen Blicke der Schwarzen. Paul betrachtete ihn
und war zufrieden.
Diese Eisenbahnwagen, mit denen die Interregios bestückt sind, fahre ich sehr gern, besonders deshalb, weil man an den Tischen der großen mittleren Abteile meist bequem schrieben kann in einer Atmosphäre von Landschaft, Ruhe und Geselligkeit. Ist der Zug stärker besetzt, lernt man den und jenen etwas besser kennen, was in den kleine Abteilen viel seltener vorkommt. So traf ich auch Bodo von Wallteufel.
Etwa eine halbe Stunde vor dem Zielbahnhof hatte sich im Nachbarabteil auf der Nichtraucherseite, was nicht durch eine Tür abgetrennt ist, lautes Geschwätz breit gemacht. Von "Mutti" und "Vati" und "Schatzilein" war die Rede. Es verwunderte mich, wie die Stimmen älterer Leute offensichtlich über ein ihnen zugehöriges Kind sprachen. Dann hieß es:
"Er hat ein Beruhigungsmittel bekommen. Da übersteht
er die Bahnfahrt besser. Jetzt muß er laufen, daß er munter
wird."
Dies nun gar erschreckte mich. Dann kam er. Er war ein
rostbrauner, langhaariger Dackel mittleren Alters mit Wirbeln im Fell wie
ein Rosettenmeerschweinchen, einem geraden Schwanz, einem langen, klugen
Kopf und verständigen braunen Augen, die natürlich wegen der
Tablette leicht benommen dreinblickten. Er wurde von einer ruheständischen
Frau an kurzer Lederleine bis zur Tür des Raucherabteils geführt.
Dort legte er sich nieder, und die Frau ließ ihn allein. Nach einer
Weile tappte er zurück. Ich saß am Gang und sah ihn aufmerksam
an.
"Wallteufel", stellte er sich vor.
Ich sagte meinen Namen und: "Sicher ein schweres
Leben für Sie."
"Es geht. Ich habe ein Dach überm Kopf, wirklich
angemessenes Essen, werde regelmäßig dem Arzt vorgestellt, komme
ein wenig in der Welt herum und lerne freundliche Leute kennen." Ich
lächelte geschmeichelt. "Zu Hause hatten Nachbarn noch ein paar
Bedenken mehr als Sie und verständigten Kontrolleure. Meine Wirtin
war ungeheuer erbost darüber, daß die Herrschaften vom Tierschutzverein
kamen und nicht vom Sozialamt. Sie fanden alles in Ordnung."
"Aber die Leute", sagte ich, "die müssen
Sie doch ertragen?"
"Halb so schlimm. Ich habe einen Zwinger mit Hütte, da kann ich mich zurückziehen. In der Hütte ist ein Bildschirm. Dort sehe ich Sendungen, die die Wirtsleute eingeschaltet haben. Meist unsäglicher Blödsinn, aber er lenkt ab. Wenn man klug ist, kann man auch daraus lernen. An Entsorgungscontainern habe ich mir ein paar Bücher gesammelt. Lauter ordentliche, sonst wären sie nicht weggeworfen worden. Sie sehen, ich habe ein gutes Leben."
Von drüben tönte es: "Schatzilein, Schatzilein, komm her zu Mutti und Vati!" Ein Wedeln mit dem Schwanz. Ich nickte ihm zu. Er ging seiner Wege.
"Armer Hund", dachte ich, "armer Hund", und wußte nicht, ob ich recht hatte.
Tinka und Toddy waren gegen halb vier nachmittags in Horní Tanvald losgegangen, über den Hang des Spicák nach Mariánská Hora gelaufen und stiegen nun den langen Weg zu den Mariánskohorské Boudy hinauf. Die Flocken schwammen schon sanft herab, seit sie sich von dem tschechischen Jäger verabschiedet hatten, dem sie die Schlüssel zur Hütte verdankten. Sie waren gewitzt genug gewesen, gleich die Gamaschen anzulegen und die Ponchos über sich und die Kraxen zu ziehen. Dort wo der Weg nach oben sich von der Forststraße trennt, am Sattel zwischen dem Mariánská Hora und dem Bucina, erreichten sie die Höhe, wo der Schnee auf dem Wege nicht mehr taute. Es war schon dunkel geworden, und sie konnten die neue Weiße gut gebrauchen.
Die Boudy lagen verlassen. Nirgends sahen sie ein Licht.
Sie gingen über die Kreuzung und bogen hinter der Hütte der Naturschützer
links in den Waldweg ein, der nach Rozmezí führt. Inzwischen
reichte ihnen der Schnee schon bis an die Knöchel. Sie hatten sich
heiß gearbeitet und an den Innenseiten der Ponchos spürten sie
gefrorenes Wasser.
"Es ist nicht mehr weit", sagte Toddy, "wir
sind auch richtig. Aber hart wird's schon noch. Der Weg bleibt schlecht."
Es war ein beschwerliches Gehen über den zerfahrenen,
meist noch ungefrorenen schlammigen Grund, dessen Tücken man unter
dem Schnee in dem kalkmilchigen Dunkel nicht erkennen konnte. Aber sie
brauchten auch für die letzten drei Kilometer nur eine Stunde. Als
sie den Schatten der Hütte zwischen den Bäumen erkannten, reichte
ihnen der Schnee schon bis an die Waden.
Ihm war es zu mühsam, wegen der Taschenlampe die
Kraxe unter dem Poncho abzunehmen. Er tastete nach dem Vorhängeschloß
und fand es, und auch das Türschloß konnte er im Dunkel öffnen.
Sie traten hinein in den Geruch aus Holz und Teer, und trotz der Kälte
fanden sie es behaglich.
Feuerzeug und Kerze waren das, was er zuerst in den Außentaschen
fand. Es wurde Licht, und sie sah sich um. Der Ofen war das Auffälligste.
Schwer gemauert stand er in der einen Ecke und nahm ein Viertel des Raumes
ein. An seiner langen Seite stand die Bank, vor ihr der Tisch. In der Schmalseite
unten, schwarz umrandet, wartete hinter einer gußeisernen Tür
die Feueröffnung. Daneben lagen Holzscheite, noch von den vorigen
Bewohnern hereingeholt. Dann kam schon die Schwelle.
In der Ecke dem Ofen gegenüber stand eine breite
Pritsche, dick belegt mit trockenem Farnkraut. Zwei Fenster spiegelten:
gegenüber dem Tisch und an seiner Schmalseite. Von außen lagen
Läden davor. Ein paar Wandborde waren da. Auf dem einen neben Gläsern
mit Salz, Mehl, Zucker, auch Kerzen und Streichhölzer.
Toddy sagte: "Das wichtigste bei der Erschaffung
der Welt waren Erde, Wasser und Feuer. Jetzt erstmal Feuer."
Es dauerte keine Minute, und im Ofen knisterte und knackte
es. Tinka saß auf dem einen Ende der Bank, hatte die Hände in
den Anoraktaschen verborgen und lauschte der Freude, die in ihr aufbrach.
Toddy zog einen riesigen eisernen Behälter aus einer
Höhlung des Ofens, nahm den Deckel ab und ging hinaus. Es freute ihn,
daß der Topf ausgegossen worden war und er den neuen Schnee nicht
mit vielleicht auch noch rostigem Wasser entheiligen mußte. Nach
dem Geräusch fand er die Quelle, füllte das Ungetüm und
brachte es mühsam und vorsichtig wieder an seinen angestammten Platz.
Dann löste er die Verriegelungen der Fensterläden, nahm den Korb
unter der Bank hervor und ging noch dreimal hinaus: zweimal um Holz zu
holen und einmal, um die Klappen aufzuschlagen und festzuhängen. Dann
verschloß er die Tür endgültig, löste seine Gamaschen
und zog die Bergstiefel aus.
Tinka stand auf, sagte: "Nun die Erde", und
begann, allerhand Hörnchen, Hähnchen und Rotwein aus ihrer Kraxe
zu fingern, während Toddy die Schlafsäcke auf die Pritsche warf
und endlich auch die Baudenschuhe erreichen konnte. Die Hütte erwärmte
sich. Schließlich saßen die beiden auf der Ofenbank und merkten
nach den ersten Bissen und den ersten Schlucken, wie sehr hungrig und durstig
sie eigentlich waren.
Auch der schönste Hunger hat einmal ein Ende (der
Durst nicht so bald). Hausfraulich-mütterlich räumte Tinka ab.
Toddy zerrte den Band Essays von diesem alten Franzosen aus dem Rucksack.
Das Buch zeigte alle Spuren von vierzig Wanderungen. Aber es war immer
noch nicht ausgelesen, vielleicht deshalb, weil so viele Seiten zwei- und
dreimal durchgeackert worden waren. Tinka brachte einen dicken Lederband
zum Vorschein. "Mein Tagebuch", nuschelte sie zur Erklärung
und begann, drin mit einem Bleistift herumzukritzeln.
Sie saßen geborgen vor Wetter und Zeit. Es war nicht
zu hören, nicht zu spüren, wie draußen die Flocken fielen
und die Minuten vorüberstrichen.
"Ist es nun ein Anfang oder ein Ende?" fragte
sie.
"Ein Anfang ist immer zugleich ein Ende, ein Ende
ein Anfang."
"Na gut, Philosoph." Dann: "Wie eine Hochzeitsnacht.
Nur, daß die beiden darin gewöhnlich nicht verheiratet sind."
"Die beiden in einer Hochzeitsnacht sind immer verheiratet",
berichtigte er sie.
"Aber miteinander", gab sie zu bedenken. Als
die Kerze erlosch, war es draußen heller als drinnen, obwohl der
Himmel sicher mit dicken Wolken von der Erde getrennt war, denn es schneite
noch immer in großen, sanften Flocken. Es war aber kein Anfang und
kein Ende, denn es war keine Zeit in der Hütte. Ohne Zeit aber gibt
es keinen Anfang und kein Ende.
Nacht mit Story und Katze
Als Kon zum siebzehnten Male in seinem Leben las, wie
Nick die eingelegten Aprikosen aus der Tasse schlürfte, nachdem er
seinen schweren Packen von der Station über das verbrannte Land bis
zu dem Platz über dem Fluß geschleppt hatte, dem erhöhten
Platz unter den Kiefern, den er sich zum Lagern auserkoren hatte, klopfte
es zaghaft.
Kon schob die Petroleumlampe und das Heft auf dem Tisch
zurück, stand von der Ofenbank auf, ging aus dem Zimmer über
den kalten, dunklen, steingepflasterten Flur und öffnete die Haustür,
bereit, einen Angreifer mit lange geübtem Griff außer Gefecht
zu setzen.
Draußen, auf dem Absatz über den Stufen stand
schlank und aufrecht inmitten der gemächlich fallenden Flocken eine
junge Frau in Wanderkleidung und mit einem erheblichen Rucksack auf dem
Rücken. Blonde Locken quollen unter ihrer Kapuze hervor, daß
er anfangs dachte, es wäre der Rand eines Pelzfutters. Als sie ihn
sah, begann sie tschechisch etwas zu erklären, was er nicht verstand.
Für solche Fälle hatte er ein geflügeltes Wort bereit: "Pomaleji,
prosím, langsamer bitte, rozumím cesky jen trochu."
Entweder kramte das Gegenüber dann seine Deutschkenntnisse aus, oder
es begann wirklich, langsamer und deutlich zu sprechen. So verstand Kon
jedes dritte Wort. Das reichte gewöhnlich.
Diesmal verstand er "sníh" und "mráz"
und "unavená". Der nächste Ort war vier Kilometer
und beinahe vierhundert Höhenmeter entfernt. Er trat zur Seite, um
die Frau herein zu lassen.
Im Flur noch wischte und schüttelte sie den Schnee
von Rucksack und Kleidung, dann trat sie ins Zimmer und zog gleich die
Wanderstiefel aus.
"Chcete caj?" fragte er, worauf sie nickte und
er von dem immer leicht kochenden Wasser auf der Herdplatte in einem Glas
einen Teebeutel aufgoß. Sie holte zwei Hörnchen und ein Stück
Käse aus dem Rucksack, setzte sich auf die Ofenbank, zog sein Heft
zu sich und blickte lange nachdenklich auf den Titel und die ersten Zeilen
der Story. Dann schob sie das Heft weg und begann, an den Hörnchen
und dem Käse zu knabbern und von dem heißen Tee zu nippen. Er
setzte sich wieder an seinen Platz und las langsam Wort für Wort weiter,
wo er aufgehört hatte, als sie klopfte. Er konnte den Text beinahe
auswendig, ärgerte sich aber, daß er mit der Übersetzung
diesen Kult trieb. Das Original verstand er zwar, aber es blieb ihm fremd.
Als die junge Frau Hörnchen und Käse aufgegessen
hatte, holte sie einen Block und Stifte aus ihrem Rucksack und begann zu
zeichnen. Forellen, die aus dem Wasser sprangen, Kiefern mit einem Zelt,
die verbrannte Stadt Seney mit den Grundmauern des Mansion House Hotels
und stehengebliebenen Schornsteinen, die Hemingway gar nicht erwähnt
hatte. Ein Männerkopf war auch dabei, ein seltsames Gemisch aus dem
Gesicht des Amerikaners, wie man es von Fotos aus seinem Alter kennt, und
den Zügen von Kon. Das war wohl Nick. Dann wurden ihre Striche langsamer,
unsicher. Sie warf gelegentlich ein Blatt zerknüllt auf den Boden.
Ihre Augen starrten angespannt und zornig. Er wußte, womit sie nicht
zurecht kam. Es war der Große doppelherzige Strom. Der Amerikaner
hatte beinahe siebentausend Worte für ihn gebraucht.
Das Mädchen starrte Kon verzweifelt an. Er schüttelte
den Kopf. "Nemozné", sagte er. Aber sie begann wieder.
Verworrene Striche, ungegenständlich, ungeordnet. Schließlich
gab sie es endgültig auf. "Barvy", sagte sie. Aber auch
farbig würde sie es nicht schaffen. "Nemozné", sagte
er wieder.
Sie drehte die Flamme der Petroleumlampe klein und legte
sich rücklings auf die Ofenbank, den Kopf auf seinen Oberschenkel.
Er blickte in ein ernsthaftes, nachdenkliches Gesicht. Dann begann er leicht,
über ihren Pullover zu streichen, dort wo sich darunter schwach ihre
kleinen Brüste erhoben. Sie atmete schwer.
In der gegenüberliegenden dunklen Ecke des Zimmers
erhob sich räkelnd eine Katze, die dort auf einem Packen Kissen geschlafen
hatte. Er konnte sich nicht an das Tier erinnern. Im Haus war es nicht
gewesen, als er nachmittags gekommen war, und hereingelassen hatte er es
auch nicht. Die Katze stakte steifbeinig und vorsichtig quer durch das
Zimmer herüber, sprang auf die Ofenbank, rollte sich an seiner freien
Seite zusammen und schnurrte tief zufrieden.
Draußen vor dem Fenster fielen noch immer die sanften,
großen Flocken. Sie fielen gerade herunter, obwohl ein Wehen zu hören
war, als bewege sich das Haus gleichmäßig und irgend etwas fließe
schmeichelnd an ihm vorbei.
Er strich weiter über die Brüste der jungen
Frau, deren Atem in ein leises Stöhnen überging. Sie lockerte
den Bund ihrer Daunenhose, damit ihre Hände freies Spiel bekämen.
Schließlich schrie sie fast. Dann legte sie sich still auf die Seite,
den Kopf immer noch auf seinem Oberschenkel, und ihm war, als ob nun auch
sie schnurrte. Er angelte die Decke vom Stuhl an der Schmalseite des Tisches
und hüllte den weichen Körper ein.
Die Katze räkelte sich erneut. Sie tappte vorsichtig
über die Decke und kuschelte sich dann in die Kniekehlen der Frau.
Als er fröstelte und erwachte, füllte schneeweißes
Licht das Zimmer. Die Katze lag auf der Decke neben ihm. Aber die Frau
war fort. Er suchte nach den Spuren von der Nässe an ihren Bergstiefeln
und fand nichts. Als er Wasser holen ging, war die Haustür von innen
verriegelt. Nur vor dem Feuerloch am Ofen lag ein kleines Stück Zeichenkarton
mit einem seltsamen Krakel darauf.
Dann frühstückte er, kraulte die Katze, die er nicht hereingelassen hatte, die jedoch neben ihm saß, und dachte an die verlorene Frau, die immerhin über den Flur in die Stube gegangen war, an die verbrannte Stadt Seney und an das nächtliche Wehen ums Haus. Er war unzufrieden und glücklich.
Eigentlich war Bartel zeitig genug losgewandert, um noch bei Tageslicht hinunter bis an den Strom und die Bahnstation zu gelangen, aber dann hatte es begonnen zu schneien.
Das beunruhigte ihn anfangs nicht. Er war den Weg schon mehrmals gegangen, der im Tal mit der verlassenen, gleislosen Eisenbahnstrecke meist über die Wiesen führte, ab und zu über einen Steg und an engen Stellen, wo sich der Zug vor vielen Jahren durch Tunnel gezwängt hatte, gelegentlich auch etwas den Hang hinauf. Aber allmählich wurde er dann doch unsicher. Der Pfad verlor sich mehr und mehr unter der Schneedecke und war auf den flachen Wiesen kaum mehr zu erkennen. Das Ziel schien nicht mehr bei Tageslicht erreichbar zu sein, denn Bartel wurde immer langsamer. Mit vier Kilometern in der Stunde hatte er gerechnet auf dem ebenen Gelände. Jetzt schaffte er nur noch drei. Wenn ihm der Schnee dann bis über die Knöchel ginge, würden es wohl gerade mal zwei sein.
Tatsächlich dunkelte es sehr schnell. Er fühlte,
daß er keinen Weg mehr unter den Füßen hatte, sondern
über die blanke Wiese stapfte und bemühte sich, den Bahndamm
zu erreichen. Aber auch der würde keine ausreichende Sicherheit bieten.
Die Brücken waren nicht alle mehr begehbar. Bartel rechnete auch damit,
daß die Tunnel inzwischen zugemauert waren.
Er fand einen Fahrweg, der quer über die Wiesen zur
alten Strecke führte. Am Übergang stand noch das Häuschen
des Schrankenwärters. Darin brannte Licht. Irgend jemand hatte das
Büdchen wohl billig erworben, und nutzte es als Wanderhütte.
Bartel klopfte. Nach einer Weile öffnete sich ruckartig die Tür.
Er sah vor sich eine zierliche blonde Frau in anliegenden dunklen Sachen.
Sie stand in einer eigenartigen Haltung da, als wolle sie gleich irgendeine
asiatische Kampftechnik anwenden.
"Guten Abend", sagte Bartel, "entschuldigen
Sie bitte die Störung. Ich finde den Wanderpfad über die Wiesen
nicht mehr. Sagen Sie mir bitte, wo dieser Weg hier hinführt oder
wie ich sonst einigermaßen sicher hier weiterkomme!"
Die Frau dachte ein wenig nach und antwortete dann: "Sicher
kommst du heute gar nicht mehr aus dem Tal raus. Am besten ist, du bleibst
über Nacht hier. Komm rein!" Sie trat zur Seite.
Bartel schüttelte den Schnee vom Poncho, und gleich
als er die Schwelle in den Flur überschritten hatte, löste er
die Gamaschen und zog die Bergstiefel aus. Dann fitzte er sich aus dem
Poncho, setzte den Rucksack ab und hängte Hut und Anorak an einen
Haken. Die Frau öffnete die Tür zu einer Stube, von der Bartel
als erstes Wärme, eine Bank, einen großen Kachelofen und einen
beleuchteten Tisch mit verstreuten Papieren warnahm. Die Frau wies auf
ein Ende der Bank, etwas entfernt von den Papieren. Er setzte sich. Aus
einem Wandschrank holte sie eine riesig anmutende Steinguttasse von der
Art, wie schon eine auf dem Tisch stand. Sie goß heißes Wasser
aus dem Topf in der Ofenhöhle hinein, warf einige Stücke Würfelzucker
hinterher, rührte sorgfältig und nachdenklich um. Schließlich
fügte sie einen mächtigen Schuß einer bräunlichen
Flüssigkeit hinzu. Dann stellte sie die Tasse vor Bartel hin, erhob
die andere und sagte:
"Verena."
Bartel griff zu der seinen und antwortete: "Bartel."
"Mach dir's bequem." Sie setzte sich zu ihren
Papieren, schrieb zwischen langen Denkpausen kurze Sätze oder strich
weite Strecken aus.
Bartel holte aus dem Rucksack ein Buch dieses schmalgesichtigen
Poeten, dessen Gedichte man lesen mußte, als wären sie Prosa.
Sie fingen dann ganz wundersam zu schwingen und zu klingen an, so verführerisch,
daß schließlich Tisch und Ofen und das ganze Häuschen
mitschwangen und mitklangen.
Aber plötzlich war Stille. Dahinein drang ein rhythmisches
Schlagen vermischt mit einem Schnaufen. Schließlich pfiff eine Lokomotive.
Erstaunt sah er Verena an.
"Wieso fährt er noch?"
"Seit die Strecke eingeweiht wurde, fährt er
schon immer um diese Zeit", antwortete sie, obwohl das gar keine Antwort
auf seine Frage war. "Es ist der Abendzug."
"Komm, wir gehen schlafen", sprach sie ihn nach
einer Weile an und fügte schnell hinzu: "Keine Angst. Ich bin
auch nicht mehr die jüngste."
Als sie still im Bett nebeneinander lagen, kam ein gleichmäßiges
Rollen das Tal herunter.
"Der Aufseher mit der Draisine. Er fährt zu seinem Hause an der Hauptstrecke. Besichtigt dabei noch alles. Die letzte Fahrt heute."
Dann schliefen sie ein.
Bartel erwachte in gleisender Helle, stahl sich von Verenas
Seite, zog seine Sachen an, nahm den Rucksack auf und machte sich davon.
Es schneite nicht mehr. Der Pfad über die Wiesen war deutlich zu erkennen.
Als er sich umdrehte, sah er das Schrankenwärterhäuschen weit
hinter sich.
An der Bahnstation verwunderte ihn, daß es schon
später Nachmittag war. Aber seine Armbanduhr bestätigte ihm die
Zeit.
Dann löste er die Fahrkarte und stutzte über
das Datum. Aber auch diesmal wurde ihm versichert, daß es richtig
sei. Zwischen Anfang und Ende seiner Wanderung hatte es nur für ihn
diese Nacht gegeben.
Die Schloßjungfrau zu Schandau
"Nicht alles, was in Büchern steht, ist richtig.
Vermutlich ist sogar das meiste falsch.
Daß ich nur aller fünfhundert Jahre erlöst
werden kann, zum Beispiel, stimmt nicht. In solch einem Zeitraum ändern
sich die Denkweisen der Menschen derartig, daß die gestellten Bedingungen
gar nicht mehr ordentlich wirksam werden. Außerdem gewöhnt man
sich an den Zustand und hat keine Lust mehr, ihn zu verändern. Der
Herr Meiche hätte dann auch gar nicht von mir berichten können.
Die ersten fünfhundert Jahre waren zu seiner Zeit noch nicht vorbei."
Ich schrak auf, klappte das Sagenbuch zu, dachte, daß
ich jetzt erst einmal eine Runde schlafen müsse, blickte aber trotzdem
vorsichtig neben mich.
Was so gelehrt zu mir sprach, war ein junger Mensch weiblichen
Geschlechts, auf den die Bezeichnung Fräulein im alten Sinne des Wortes
ausgezeichnet paßte. Sie war fein, bescheiden, den Umständen
und dem warmen Frühlingswetter entsprechend angezogen, trug wohlgekämmtes,
empfindsam geschnittenes, blondes Haar, hatte eine glatte, nicht zu weiße
Haut und vollführte abgewogene Bewegungen.
"Auch die Bemerkung mit dem Goldschatz ist erlogen.
Die Überbleibsel hier sind von einer kleinen Fortifikation. Eine Handvoll
Reiter sollte den Elbübergang schützen."
Ich fand mich mit der Lage ab und dachte mir, Fragen bringt
mich zurück in die Wirklichkeit.
"Aber wieso geistern dann Sie hier herum?"
"Eine gewöhnliche Geschichte. Einer von der
Besatzung trieb es manchmal mit unserer Jungmagd in der Scheune. Ich war
damals ein dummes, kindliches Ding und sah unbemerkt zu. Erst neugierig,
dann leidenschaftlich. Ich hätte mich auch gern beteiligt, wußte
aber nicht, wie ich es anstellen sollte. Jedenfalls verliebte ich mich
regelrecht in ihn.
Als der recke zcum wintersteine belagert wurde,
die Berken sich von ihm losgesagt hatten und er seine Burg an den Städtebund
verkaufen mußte, verloren die Reiter hier ihren wichtigsten Rückhalt,
denn sie hatten ihm mit Nachrichten zugearbeitet. Weil viele Mägde
in der Stadt von ihnen belustigt worden waren, und auch allerlei Räubereien
und Drangsalierungen auf ihre Rechnung gingen, stürmten die Schandauer
das Fort und brannten es nieder.
Ich wollte mein Idol warnen, fand in die Befestigung hinein,
aber nicht wieder heraus und kam im Feuer um. Mein Vater war Kaufmann,
angesehen wegen seines Geldes, aber auch angefeindet, weil er aus Böhmen
stammte. Er sah sich genötigt, mich zu verfluchen.
Dort", sagte sie und deutete vage auf ein Gebüsch,
"handelten ein Schwarz-Roter und ein Weiß-Goldener den Verbleib
meiner Seele aus. Der Schwarze war im Nachteil, weil ich aus Liebe gehandelt
hatte, aber der Weiße konnte sich auch nicht durchsetzen, wegen des
Fluchs und weil meine Liebe doch nicht so ganz göttlicher Vorschrift
entsprochen hatte. Sie einigten sich schließlich auf ein Erlösungsabkommen."
Ich vermutete einen ganz blödsinnigen Ausdruck auf
meinem Gesicht, starrte die kühle Erzählerin aber unverwandt
an.
"Na, wie ist es, wollen Sie mich erlösen? Ein
Schatz ist allerdings nicht zu haben, wie Sie wissen. Ich kenne zwar ein
paar Goldseifen in der Zauke, die die Wäscher seinerzeit nicht gefunden
haben, aber damit können Sie heutzutage doch nichts anfangen."
Ich dachte mir, daß es mit dem Untier, als das sie
dann auftauchen würde, so schlimm nun nicht sein könnte, und
fragte:
"Wann?"
"In fünf Tagen, also am fünfundzwanzigsten,
fünf Stunden nach Sonnenaufgang."
Ich nickte. Als hätte ich damit einen Schalter betätigt,
war sie verschwunden.
Pünktlich saß ich dann wieder auf dem Schloßberg,
pünktlich tauchte auch das Untier auf. Es war eines von den schwarz
und schlampig gekleideten Mädchen, deren Gesichtshaut durch Zigarettenrauch,
Schlafmangel und ungestillten Bedarf an Licht und Luft verunstaltet ist.
Sie trug an einer groben Kette ein großes Henkelkreuz um den Hals,
kunstlos aus Zinn gegossen. Am meisten aber fielen ihre riesigen schwarzen
Lederschuhe auf, die deutlich zeigten, wie sehr das Weib über den
Onkel lief.
"Da guggst'e, was?" Sie hockte sich neben mich.
"Na los. Dreie sinn Flicht!"
Ich grub verzweifelt in meinem Gedächtnis nach, ob
Aids auch schon durch Küssen übertragbar sei, fand nichts, dachte
mir aber, so schlimm würde es nicht gleich werden. Also nahm ich ihren
Kopf in meine Hände und küßte sie beinahe gefühlvoll,
probierte auch, ein wenig mit der Zunge zu spielen, worauf sie aber nicht
einging. Als ich sie losließ, sah sie mich ein wenig verschleiert
und verwirrt an, sagte aber nichts und fing sich nach einer kleinen Weile.
Da wagte ich die zweite Ausfertigung, bemerkte etwas mehr Entgegenkommen:
Ich konnte ihr sogar ein wenig die Zähne öffnen. Die Dritte nun
gar verlief in schönem Überschwange. Das Mädchen ließ
sich los, wurde aber kein bißchen wild.
Nachdem ich sie freigegeben hatte, setzte sie sich aufrecht
hin und sprach die Worte:
"Wenn de denggst, nu gannst'e mid mir rumbummsen,
da irrst'e dich."
"Ich denke das nicht. Von Rumbummsen steht nichts
in der Sage."
Sie blickte in die Ferne. Ich tat es ihr nach. Draußen
flimmerte das Sonnenlicht im gelblichen Frühlingsgrün. Der Wind
streifte vorsichtig über das Gras. Drei weiße Haufenwolken schmückten
den Himmel. Als sie sich regte, wandte ich mich nach ihr um.
Da stand sie, in ein langes, glattes Gewand aus hellbraunem
Leder gekleidet. Durch Schlitze im Rock und den Ärmeln leuchtete rote
und grüne Seide. Ihr Haar war nun kastanienfarben. Das braun-grün-rote
Barett saß gerade und sittsam darauf.
"Mêj se dobre", sagte sie, "mêj se dobre, a zustan láskyhodným muzem, jestli je mozný. Mêj se dobre." Dann waren da nur noch das Flimmern, die Wolken, das gelbe Grün und eine sanfte Müdigkeit.
Es ist freundlich, wenn an hervorragenden Stellen in Landschaften
Bänke, Schutzhütten und Tische aufgestellt werden. Dem Wanderer
wird die Rast angenehm gemacht. Obwohl er gern auch darin schwelgt, im
Gras zu sitzen, den Rücken an einen Stein oder einen jungen Baum zu
lehnen und in einen weiten Ausblick zu träumen. Allerdings locken
Bequemlichkeiten oft Menschen an, die nicht kommen, um zu erleben, sondern
nur, um ihre Liste vollzogener Standorte zu ergänzen. Sie zerstören
mit Geschwätz, Geschrei, Tumult und Dummheit jede stille Freude.
Deshalb war ich erst mit beginnendem Abend auf den Kleinen
Bärenstein gestiegen, wo auf dem Fleck des verschwundenen Gasthauses
all die Annehmlichkeiten aufgebaut sind, die tagsüber die Schwärme
der Ausflügler anziehen. Denn die finden sich spät am Tage nicht
mehr ein, weil sie ihre gewohnte Abendbrotzeit nicht versäumen wollen
und weil sie einen Abstieg in der Dämmerung oder gar im Dunkeln fürchten.
Ich hatte mir Kaffee gekocht und aß.
Schwerfälliges Tappen von Bergstiefeln ließ
mich aufhorchen. Am Ausgang der alten Treppe tauchte einer von den uralten
Bergsteigern auf, die man gelegentlich im Gebirge trifft. Wenn sie wandern,
gehen sie meist allein, denn ihre jungen Freunde wollen lieber klettern
und ihre alten sind weggestorben. Man sieht sie manchmal auch noch am Felsen,
auf klassischen Wegen, meist nicht den einfachsten. Spüren sie, daß
man ihnen geneigt ist, stürzen sie sich gierig auf die Gelegenheit,
ausgiebig zu schwatzen. Sie laufen in alten Baumwollanoraks herum, mit
Pudelmützen oder ausgebleichten Hüten voller Abzeichen, in Kniehosen
aus Kord, Bergstiefel einer längst verschollenen Form aus glattem
Leder an den Füßen und mit zerschlissenen Rucksäcken, die
ihnen faltig von den Schultern hängen. Immer wirken sie krummbeinig,
aber ihre Knie federn beim Gehen.
"Guten Abend", sagte er. Und: "Guten Appetit."
Und: "Freut mich, daß sie an einem Stück Wurst kauen und
nicht an einer Möhre. Nimmt ja seltsame Formen an, die Esserei heutzutage.
Mein Freund Denni Buhn damals im Westen ist schließlich auch wieder
von der milden Kost frommer Denkart abgekommen."
Ich starrte ihn an. Wenn er wirklich Daniel Boone meinte,
war das mehr als zweihundert Jahre her.
"Guten Abend", erwiderte ich schließlich.
Und: "Danke." Und: "Ich bin doch kein Karnickel."
"Denni war auch keins. Er hielt sich nur damals besonders
an die Bücher Mose, wo doch alles so schön einfach beschrieben
ist. Er zog die Grenzlinien zwischen den Menschen nicht zwischen Weiß
und Rot oder Weiß und Schwarz und schon gar nicht zwischen Schwarz
und Rot, sondern nur zwischen Gut und Böse. Daß verhältnismäßig
viele Indsmen auf die böse Seite gerieten, lag nur an ihrem fiesen
Charakter. Als er dann Boonsborough gegründet hatte, verschob sich
auch einiges. Jetzt zählten eine Menge von Trappern, diesen armen
Hunden, zu den Bösen. Denn Neid auf Reichtum macht gierig und aufsässig.
Die Händler von der Ostküste wechselten mehr und mehr auf die
gute Seite."
Na, mein Lieber, dachte ich, du kommst aus einer ganz
schön roten Seilschaft.
"Aber mit der Ernährung bekam er Schwierigkeiten.
Er nahm die Sache mit dem allerlei Kraut und den allerlei fruchtbaren Bäumen,
die GOTT der HERR Adam und Eva allein zur Speise gab, in der Kindheit sehr
ernst und aß kein Fleisch. Als er in die Wälder ging, wurde
ihm das schwer, denn der Mensch, der dauernd in Bewegung und auf Angriffe
gefaßt sein muß, braucht etwas Ordentliches zwischen die Zähne,
und ein Viehzeug ist schneller geschossen als die notwendige Menge Kräutlein
und Sämlein gesammelt. Da fand er schnell heraus, daß GOTT dem
Abel mit seinen Hammelherden besser gesonnen war als dem Kain mit seinen
Früchten des Feldes, betrachtete das zwar nicht als Selbstkritik des
HERRN, denn eine solche war schlechterdings unmöglich, sondern lediglich
als Anlaß, die Dinge im Zusammenhang zu betrachten.
Auch die Auslassungen von GOTT dem HERRN über die
Vermehrung nahm er sehr wörtlich, und er verstreute seinen Samen hart,
aber gerecht über alle Töchter des Landes. Er war ein starker
Mann, und als wir einmal am Green Creek, so einem kleinen, schweigsamen
Flüßchen - heute ist es längst eine Kloake - herumkrochen
und wochenlang keine Menschenseele, geschweige denn einen Weiberkörper
gesehen hatten, versuchte er es sogar mit der Hündin, die uns zugelaufen
war. Aber die wehrte sich unverständlicherweise und ließ sich
auch nicht mit Feuerwasser willfährig machen wie die Indianerinnen.
Was das Essen betrifft, scheint er von seinen Zweifeln
nicht losgekommen zu sein. Ich habe gehört, als er seßhafter
wurde, hätte er wieder mit dem Gemüse angefangen. Ist auch schwer
zu verstehen, was der alte Mose wirklich gemeint hat. Aber wahr ist das
schon, was da steht, daß der Vegetarier Kain den Hammelbrater Abel
erschlagen hat. Das versuchen die Kains doch heute auch. Allerdings verzichten
sie auf das nachträgliche Zeichen des HERRN, denn sie haben keine
Furcht, daß sie einer totschlage, der sie findet, denn wir leben
in einem Rechtsstaat. Da hat derjenige Vorteile, der zuerst totschlägt.
Er kommt in ein wohlausgestattetes Gefängnis und lebt fürderhin
bequem. Nicht zu vergleichen mit dem dauernden Rumgeschleiche im Gestrüpp
wegen der Indsmen und dem Planschen im Wasser wegen der Fallen.
Aber sie streiten gegen GOTTES Gebot, wenn sie vom Schutze
unseres Planeten schwafeln. Denn der HERR hat wohlweislich gesagt: Seid
fruchtbar und mehret euch und füllet - wirklich: füllet - die
Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im
Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles
Getier, das auf Erden kriecht. Die Herrschaft wird wohl eine Intensivhaltung
sein müssen und die allmähliche Vernichtung allen grünen
Krautes und aller fruchtbaren Bäume, weil anders die Fülle nicht
ernährt werden kann. Denn SEINE Absicht war wohl, daß die Erde
genauso wenig unsterblich sein sollte wie seine andere Schöpfung.
Gegen SEIN Gesetz läßt sich nicht verstoßen."
Der Alte schwieg, sah hinüber nach der Festung wo
ein Fenster nach dem anderen aufleuchtete, hinunter nach Weißig,
das einen Dunstschleier über sich zog und nach der schwarzen Masse
des Großen Bärensteines. Dabei wurde seine Gestalt immer durchsichtiger,
bis sie sich ganz im Gewirr der Birken aufgelöst hatte.
Hin und wieder sieht man in der Sächsischen Schweiz
Wanderer mit auffällig großen Rucksäcken. An den Touristenmeetings
drücken sie sich meist scheu vorbei. Nur einige schreiten aufrecht
und verächtlich durch die Menge. Ihr eigentlicher Ort aber sind die
einsamen Gebiete weit genug entfernt von den Parkplätzen.
Oft sind die Rucksäcke nicht nur groß, sondern
auch schwer. Ihre Träger setzen langsam Fuß vor Fuß, schwitzen
aber nicht, und außer der Gangart bemerkt man kein Zeichen von Anstrengung
an ihnen.
Kletterer tragen so ihre Ausrüstung mit sich herum.
Auch die modernen Seile, Schlingen und Schnüre sind umfangreich und
Karabiner schwer. Aber der Verdacht liegt nahe, daß sie sonst noch
vielerlei mit sich schleppen: Schlafsack und Matte, Kocher, Taschenlampe,
Pullover, reichlich Proviant, Wasser, Fotoapparat und Tagebuch.
Und auch solche, denen man selbst leichte Kletterwege
kaum zutraut, schleppen sich unmäßig ab.
Mit unnützen Gegenständen?
Woran sie tragen, sind Ängste und Hoffnungen. Die
meisten ihrer Hoffnungen sind auch Ängste und die meisten Ängste
Hoffnungen.
Die Wolken hängen tief. Schon auf der Ebenheit wird
Nebel sein. Vor vielen Jahren einmal haben sie sich im Zschand bei Nebel
verlaufen, einen anderen getroffen, der auch nicht wußte, wo er war.
Ihre Hoffnung befürchtet, es könnte heute wieder
geschehen. Heute sind sie gerüstet. Heute haben sie alles bei sich,
um unter einem Überhang auf besseres Wetter harren zu können.
Damals wollten sie nach Hause. Sie hatten dies und jenes
vor.
Bald aber verklärte sich ihnen das Erlebnis. Heute
warten sie , daß es wieder geschehen möge. Sie hoffen auf Stunden
der Stille und Abgeschiedenheit, auf dieses satte Gefühl duldender
Ruhe, auf die Umarmung der Landschaft.
Ihre Hoffnung wird kaum in Erfüllung gehen. Sie kennen
sich inzwischen zu gut aus. Und wirklich dichte Nebel sind sehr selten.
Sie könnten zwar so tun, als hätten sie sich verirrt. Manchem
Phantasten gelingt es. Aber die meisten sind zu ehrlich dafür.
Sie schleppen ihre großen Rucksäcke durch das
Gebirge, Rucksäcke, schwer gefüllt mit Sehnsucht.

Eine von diesen Gefühlsregeln, die er aus der Kindheit
mitschleppt, heißt: Schuhe wirft man nicht weg, und auf gar keinen
Fall verbrennt man sie. Dieser Satz stammt wohl aus der kargen Nachkriegszeit
oder von noch viel früher, als sie die wertvollsten und langlebigsten
Kleidungsstücke waren. Er versteht nicht, wie sich in den großen
Geschäftsstraßen die Schuhläden so dichtgedrängt halten
können. Wie oft müssen doch die Leute ihre Schuhe wegwerfen,
wenn diese Läden alle ihren Umsatz machen sollen!
Er versteht nicht und wird nicht verstanden. Niemand begreift,
warum er sommers mit seiner verblichenen Baumwolljacke in die Berge zieht
und im Winter in einer Lodenjoppe, warum er seinen Hut, der ursprünglich
vielleicht einmal als Steinklopfer geformt war - oder auch nicht - noch
immer trägt, statt ihn gegen eine moderne Wettermütze auszutauschen.
Keiner kann sein Lächeln nachempfinden, wenn er am Rastplatz mit der
Hand in die Tiefe seines Rucksackes fährt und die Wärme spürt,
die mit der Teeflasche hineingelangte und durch sorgfältige Anordnung
der Gegenstände über lange Stunden aufbewahrt worden ist.
Seine Bergstiefel hat er in einem der teuersten Läden
gekauft, nach langer Beratung mit einer freundlichen jungen, aber sachverständigen
Verkäuferin und nach einer unendlichen Geschichte mit reibenden und
drückenden Vorgängern. Ihre Schrammen erzählen von seinen
Touren, glücklichen und alltäglichen, gewagten und gefährlichen,
anstrengenden und spielerischen. Die Senkel haben Rillen ins Leder gedrückt
und Falten zusammengeschoben. Aber das Profil der Sohlen reicht noch immer
aus. Es lohnt sich, teure Ware in einem guten Geschäft zu kaufen.
Diese neumodischen dünnen Anoraks mag er nicht. Er
traut ihnen zu, daß sie bei der ersten Berührung mit einem kantigen
Stein zerfetzen. Seine Jacke ist dicht und schwer und muß regelmäßig
mit essigsauerer Tonerde imprägniert werden. Sein Rücken hat
sie über Felsen geschabt, sein Kopf sie als Kissen benutzt, und sie
hat die schlagenden Zweige der Dickungen gespürt. Legt er sie zusammen,
erwidert sie seinen Händedruck.
Er vertraut auch seiner Lodenjoppe, die im Winter den
Körper warm hält und den Schweiß nach außen befördert,
wo sie bald pulvriges Eis bedeckt. Einmal war der Hüftgurt des Rucksacks
auf ihr festgefroren.
Mit allen seinen Sachen kann er über gemeinsame Erlebnisse
reden, wenn er dahockt zu Hause oder irgendwo in der Landschaft. Trauliche,
aber auch traurige Worte sind es zumeist. Denn die Bunten, Lärmenden
verdrängen ihn von seinen liebsten Gipfeln, aus seinen heimlichsten
Schluchten, von seinen lieblichsten Wiesen.
Er gehört zu einer aussterbenden Art, ungeschützt
durch Wildhüter und Stiftungen.

Das Urvieh ist einer von den neueren Kletterfelsen. Es hockt bei den Lehnsteigtürmen auf der Südseite des Breiten Horns und konnte sich lange klein genug machen, so daß es von den Erfolgshungrigen, die zu den Gipfeln weiter vorn strebten, übersehen wurde. Schließlich fanden die Herren Klettergewaltigen Ludewig, Golbs und Heinicke aber doch heraus, daß es das Mindestmaß für einen Klettergipfel hatte, und kraxelten zielstrebig an ihm herum. Neunzehnhundertachtzig fanden sie zwei dreier Wege und einundachtzig noch ein paar siebener dazu.
Nach einer Weile hörte unser Horst davon, und wie
er so ist - ein bißchen rechthaberisch, ein bißchen spöttisch
und dazu immer bereit, großartiges Getue auf ein ehrliches Maß
zurückzuführen - ging er los, sich die Sache zu besehen. Von
oben natürlich. Auf dem schnellsten Wege. Das aber war ein neuer und
nach Horstens Meinung nur eine Eins.
Nun ging der Knatsch los. Der Alte Weg eine Drei, gemacht
von Könnern mit Ämtern. Und dann findet dieser hinterlistige
Linke eine Eins! Da müßte man doch die Abseilöse wieder
herausbrechen! Das kann nicht sein!
Die sonst unliebsam gestrengen Herren, knauserig mit Schwierigkeitsgraden,
stuften den Weg endgültig als Drei ein. Horst knurrte erst, dann feixte
er.
Wenn mal jemand schnell aufs Urvieh will, nehme er also
den Bergweg! Das ist nur eine Eins.

Die Sonne sinkt zum Horizont, aber der Himmel bleibt fahlblau.
Wolkenstreifen heben sich kaum von ihm ab. Die Wiesen verschwimmen in einem
weißlichen Grün. Es ist noch warm. Aber die Feuchtigkeit der
Luft läßt eine kühle Nacht erwarten.
Der alte Mann sitzt still vor seiner Hütte in der
Kuhle unter der ausladenden Straßenkurve. Vom Abend ungebrochen rauscht
über ihm der Verkehr. Er hört ihn kaum. Der meiste Lärm
streicht oben hinweg. Reste siebt ein Streifen Gesträuch, ehe sie
die Ohren des Versunkenen erreichen. Und er ist seit Jahrzehnten daran
gewöhnt.
Damals nach dem Kriege war die Straße schon genauso
breit wie jetzt und hatte auch schon das Pflaster aus kleinen Granitsteinen.
Die Nazis hatten ihre Straßen vorausschauend gebaut: geräumig,
fest, die Kurven weit, wo es möglich war. Nur wenige Fahrzeuge benutzten
sie: Benzin und Technik waren knapp.
Er wollte Elisa und Susan das Dorf zeigen, aus dem seine
Eltern in den Roaring Twenties nach den Staaten ausgewandert waren. Frau
und Tochter wohnten einige Wochen als Besucher in der Bamberger Garnison.
Sein Commander gab ihm Urlaub für den Trip. Die Russen waren noch
ganz freundlich. Ein Kollege aus einer der neuen deutschen Zeitungen lieh
ihm das Auto. So stand der Fahrt nichts im Wege.
Sie trödelten in ihrem Wagen gemächlich dahin.
Es war ein Vormittag im März. Tag und Frühling lagen vor ihnen.
Die Straße senkte sich etwas nach der Kuhle zu, die Kurve holte weit
aus. Sie war spiegelglatt. Der Wagen glitt seitlich weg, polterte nach
unten. Die Drei wurden hinausgeschleudert. Dann explodierte der Tank.
Als der Mann zu sich kam, lag er auf einem Brettertisch
in einem Schuppen. Unbekannte bewegten sich um ihn. Er versuchte, nach
Susan zu rufen, brachte aber nur ein Murmeln zustande. Ein älterer
Herr mit Metallbrille und grauweißem Spitzbart beugte sich über
ihn, flößte ihm eine Flüssigkeit ein, die er gierig trank,
und sagte dann:
"Schlafen Sie erst mal."
Elisa und Susan waren tot. Er quittierte seinen Dienst
so schnell es ging, fuhr in die Staaten, legte sein Vermögen möglichst
sicher an, kehrte nach Deutschland zurück, kaufte die Kuhle unter
der Straße und baute den Schuppen so weit aus, daß er darin
wohnen konnte.
Frau und Kind lagen auf dem Friedhof drüben im Dorf
begraben. Das war wohl der Grund dafür, daß ihm die Leute wohlwollend
begegneten, obwohl sie seine Lebensweise nicht verstanden. Hierzulande
war es üblich, erst einmal ein festes Haus zu haben und dann einen
Kühlschrank. Er aber ließ Elektro- und Telefonkabel zu der Bretterbude
legen. Er machte sie fest und dicht, stattete sie innen mit allen Feinheiten
einer modernen Wohnung aus und begann mit Hilfe seiner Dollars ein Leben,
daß er bis heute fortgeführt hatte. Man nannte ihn Wilder Mann,
wie früher die Einsiedler in den Wäldern.
Er wachte über die Kurve. Den Hang von der Straße
zu seiner Kuhle herunter bepflanzte er mit Gebüsch, das den Fall eines
Wagens mild aufhalten sollte. Neben seiner Behausung lag stets ein reichlicher
Vorrat Streusand, und in eisigen Nächten war er ständig draußen,
um die Fahrbahn in der Kurve abzustumpfen. Er verfügte über alles,
was zur Ersten Versorgung von Verunglückten notwendig war.
Seither war der Unfalltod seinem Bereich ferngeblieben.
Die ihn kannten oder von ihm hörten, empfanden eine
mit Erstaunen gemischte Achtung. Leute suchten ihn auf, die mit irgend
etwas in ihrem Leben nicht zurechtkamen. Sie sprachen ein wenig, zur Sache
oder auch nicht. Sie saßen eine Stunde oder einen Tag oder einen
Tag und eine Nacht bei ihm. Auf der Bank draußen oder an dem blanken
Küchentisch drinnen. Wenig Worte wurden gewechselt. Sie murmelten
einen Dank und gingen. Manche kamen oft. Andere schickten eine Flasche
Whisky, eine Kiste Tee. Ihm waren alle lieb.
Der Alte, grauhaarig nun, graubärtig, dicke Falten
von Wind und Sonne im Gesicht, in Jeans und einem karierten Hemd, lauscht
auf das Sausen über ihm. Sie fahren nun zu Millionen, wohl wissend,
wie viele von ihnen dadurch in jeder Minute sterben. Zu wenige hat er bewahren
können, in der Kurve und im Leben.
Er ist müde. Still fließt das Dämmerlicht
des Abends. Schlaf breitet sich aus in ihm, übermächtiger Schlaf,
Schlaf ohne Erwachen.

Als unsere Kinder noch Kinder waren und die Überfahrt
nur einen Groschen kostete, arbeiteten zwei einprägsame Männer
auf der Seilfähre in Schmilka.
Der eine, größere, trug stets eine Schiffermütze,
sommers eine offene schwarze Weste über dem hellen Hemd, ansonsten
die Uniform der Dresdner Verkehrsbetriebe, zu denen die Fähre gehörte.
Apfelbäckchen schmückten sein großes, kindliches Gesicht
mit dem stetigen, freundlichen Lächeln. Sicher gehörte er einer
demütigen christlichen Sekte an, die Bescheidenheit und Menschenliebe
predigte.
Der andere war deutlich kleiner, fülliger, schien
immer mürrisch und hatte eine melancholisch gerade Nase. Die Uniform
sah man oft an ihm, auch die Mütze. Im Sommer trug er dunkel karierte
Oberhemden.
Ob sie Fährleute mit Leib und Seele waren - wie man
so sagt - das weiß ich nicht, denn ich habe sie nie außerhalb
ihres Dienstes gesehen. Aber diesen Dienst verstanden sie als Dienen. Wenn
die ersten Leute aus einem Dresdner Zug die Anlegestelle erreichten, lag
die Fähre da. Und die letzte Fähre zum Zug war auch wirklich
die letzte Möglichkeit, ihn noch zu erreichen.
Davon allerdings kenne ich eine Ausnahme.
Wir kamen an einem Sommerabend von einer großen
Tour, von Ceská Kamenice über den Rosenberg, der uns sehr angestrengt
hatte. Die Kinder hatten in Hrensko noch einkaufen wollen. Jedenfalls erreichten
wir zu einer Zeit die Anlegestelle, als der Zug schon hätte abfahren
sollen. Die Fähre dümpelte gerade herüber, langsam, denn
es war Sommer, der Wasserstand niedrig, und sie mußte ja die Strömung
für ihre Bewegung nutzen. Der apfelbäckige Fährmann sah
uns zögern, winkte, hievte uns an Deck noch bevor das Boot richtig
angelegt hatte, warf das Steuer herum und half hastig mit einer Stange
der Fahrt nach, während er etwas von "Verspätung" murmelte.
Wir hörten das Echo des Wagenrollens an der rechten Talwand, sprangen
auf den Ponton, hasteten zum Bahnsteig und erreichten noch den Zug. "Danke",
haben wir gesagt. Ob wir auch bezahlt haben, weiß ich nicht mehr.
Und noch ein Erlebnis hat sich mir eingeprägt.
Auch diesmal war ich aus dem Böhmischen gekommen.
Aber es war Winter, abends, dunkel und eiskalt. Das letzte Wegstück
hatte den Rest meiner Kräfte verbraucht, denn am späten Nachmittag
hatte es begonnen zu regnen, und die Dunkelheit hatte sich bösartig
mit Glatteis gegen mich verbündet. Ich schleppte mich zur Fähre
in der Hoffnung, daß wenigstens drüben am Haltepunkt der Warteraum
offenstünde. Der Zug fuhr erst in einer Stunde. Vor der Anlegestelle
kam mir der füllige Fährmann entgegen. Er wollte sicher zu seiner
Frau hineinschauen und etwas Warmes trinken. "Du hast noch Zeit",
sagte er, "setz' dich rein." Er ging noch einmal zurück
und ließ mich aufs Boot. Damals hatten die Seilfähren am Heck
unter dem Steuerbaum eine niedrige Kajüte. Darin stand im Winter ein
Kanonenofen, der geheizt war. Ich setzte mich auf die Bank, die Wärme
packte mich, und ich schlief fest ein. Der Fährmann weckte mich zur
richtigen Zeit. Auch diesmal weiß ich nicht, ob ich bezahlt habe.
Aber "danke" habe ich jedenfalls gesagt.
Wie alle Märchen beginnt auch dieses mit "Es
war einmal". Wie in jedem Märchen aber sind die Personen und
ihr Handeln wirklich gewesen.
Heute arbeiten junge Leute auf der Fähre, sicher
zuverlässig und fleißig genug, genau nach ihren Vorschriften
und Fahrplänen. Genüßlich liegt die Fähre herüben
und drüben fahren ungerührt die Züge ein und aus. Na ja,
sie verkehren auch häufiger als früher. Das tiefe Vertrauen in
Kunst und Wohlwollen des Fergen stellt sich nicht mehr ein.
Einen von den Jungen habe ich allerdings im Verdacht,
daß er nicht nur ein richtiger Fährmann ist, sondern auch ein
guter werden will. Ich werde ihn im Auge behalten.

Ich, Johannes Christlieb Bartholomäus, Pfarrer zu
Schandau, habe dieses niedergeschrieben denen, die mir folgen, zu Lehre
und Gleichnis. Es geschah im Jahre unseres HERRN sechzehnhundertundsiebzehn,
daß ein Streit ausbrach unter den Ratsherren allhier, um eine Nichtigkeit.
Denn es gienge darumb, wann dem Fergen an der Bornfähre solle der
Fährpfennig ausgehendiget werden. Sagten die einen, deren Wortführer
der ehrenwerte Kaufmann Georg Hoyer und der fromme Hieronymus Kuntze, der
Beutler, es müsse dies vor der Überquerung geschehen, sonst der
Ferge die Arbeit vollbracht und dann sehen müsse, daß er so
oder so um den Lohn geprellt wäre, wenn sein Gast leeren Beutels sei
oder leichtfüßig davoneile. Meinten aber doch der Zimmermann
Hans Streller und mit ihm all die braven Handwerker, niemand sonst erhalte
Lohn, bevor er nicht sein Werk endgültig vollbracht, und könne
doch der Ferge sich zeigen lassen, ob ein Pfennig da sei, wäre wohl
auch stark genug, einen Flüchtigen zu halten. Widersprachen dem Herr
Hoyer, weil niemand solle einem wie dem Fährmann sein Vermögen
offenbaren müssen, und unser lieber Kuntze, der uns in seiner Frömmigkeit
eine wahre Hilfe immer gewesen, wollte dem Fergen eine polizeiliche Handlung
wie das Festhalten nicht gewähren.
Wäre also ein Entschluß möglich gewesen,
hätten sich Kuntze und Herr Hoyer nicht zerstritten darüber,
ob der Pfennig zu geben sein möge, wenn der Gast noch auf dem Stege
oder schon im Kahne sei. Herrn Hoyer sagte, seie der Gast erst einmal im
Kahne, wäre er wohl schwer wieder hinaus zu bringen. Redete Kuntze
dawider. Denn der spöttische Ferge hatte dem Frommen manch Streich
aufgehalset, und letzterer nun vermutete, er würde gelegentlich trotz
übergebenem obolus nicht aufgenommen werden.
Diese problema wäre minder Bedeutung geblieben,
beschäftigte aber den Hohen Rat seit Mariä Lichtmeß und
war Mariä Heimsuchung noch immer nicht gelöset. Mußte auch
über die Verbesserung der Brunnen und die Abwehr der pestilencia
beschlossen werden, aber sie stritten über den Fährpfennig und
waren die Bürger von Schandau sehr erbost darüber und rumoreten
mächtig.
So einigten sich die Herren Räte schließlich
darauf, den Schösser auf Hohnstein um Schlichtung anzurufen.
Waren sie wohl geübet, sich gegenseitig Schimpf an
den Kopf zu werfen, fehlte ihnen jedoch die Fertigkeit, in gesetzten Worten
ihr Anliegen vorzubringen und baten mich deshalb, als ihr secretarius
ihnen auf Hohnstein beizustehen. Ich fande mich dazu bereit, sintemalen
mein Herr Vater selig gelahrter advocatus in Dresden gewest, und
ich in meiner Jugend gar manches von seinem Tun und Treiben abgeluchset
hatte. War auch der Schösser ein Freund aus meiner Kindheit. Sah aber
manche Gefahr in der Unternehmung, ist doch die Fähre in Verwaltung
des Amtes Hohnstein und nur gepachtet, und die Stadt hatte kaum einige
Rechte an ihr.
So zogen wir eines Morgens im Juli dahin. Zu Fuß,
versteht sich, um dem Schösser Ergebenheit zu beweisen, und weil wohl
der Borg der Gäule für Streller und mich hätte müssen
aus dem Stadtsäckel bezahlet werden. Die letzten Tage waren schwüle
gewesen, und wir hatten mit zeitigem Aufbruch wollen die von der Nacht
verbliebene Kühle nutzen. Es drückete aber wie am hellen Tag.
Voran schritten Herr Hoyer und unser lieber Kuntze, der
sich an meine Seite hatte schlagen wollen, aber den Platz durch Streller
besetzt fand. Dieser mochte wohl gar nicht sich neben dem hochmütigen
Kaufmanne finden und zog mich vor, den Pfarrer, den er achtete auf eine
mürrische Art. Auch jetzt war er schweigsam und bedauerte wohl den
Verlust des Arbeitstages um einer lächerlichen Nichtigkeit willen,
die Eitelkeit zu ungehörigem Maße geblähet.
Als wir schon eine Stunde gegangen und den so genenneten
Tiefen Grund empor strebeten, deutete Streller auf eine dunkle Wolke und
sprach:
"Es wird wittern."
Gleichsam als Antwort grummelte es in der Ferne. Das veranlaßte
unseren lieben Kuntze, kräftig auszuschreiten, auch wenn der wohlbeleibte
Kaufmann in seinen theuren Kleidern auf der ansteigenden Straße kaum
folgen konnte. Früher schon verwunderte ich mich, daß der Beutler
so viele Worte unserer Heiligen Schrift flüssig hersagte, die sich
auf Blitz und Donner bezogen, und fand die conclusio, er fürchte
Gewitter. Schließlich begann es zu regnen, und weil wir noch eine
Stunde Weges bis Hohnstein vor uns hatten, stellten wir uns unter einem
überhängenden Felsen zusammen, das Wetter abzuwarten, was wohl
nach seiner Art heftig sein, aber nicht lang dauern würde. Wie auch
geschrieben steht: "Da wird man in der Felsen Höhlen gehen und
in der Erde Klüfte vor der Furcht des Herrn und vor seiner herrlichen
Majestät, wenn er sich aufmachen wird, zu schrecken die Erde."
Standen wir also geducket und gedränget, während
Blitz um Blitz niederfuhr, der Regen auf die Erde schlug und Gottes Donner
gar fürchterlich von den Felsen widerhallete. Drüben rauschete
der Bach immer stärker und ein Rinnsal leckte nach unseren Füßen.
Unser lieber Kuntze hatte sich ganz in den niedrigen Hintergrund
gezogen, und seine Beinkleider hatten sich gefeuchtet, daß zu befürchten
stand, es würde sich bald ein Gestank ausbreiten. Herr Hoyer mühte
sich, sein schmuckes Wams den hereingetrieben Tropfen zu entziehen. Streller
allerdings stand weit vorn und schien sich daran zu erfreuen, daß
ihm Stirn und Wangen gekühlet wurden. Da begann der Beutler zu murmeln
und zu beten:
"Des entsetzt sich mein Herz und bebt. O höret
doch, wie sein Donner zürnt, und was für Gespräch von seinem
Mund ausgeht! Er läßt ihn hinfahren unter allen Himmeln, und
sein Blitz scheint auf die Enden der Erde. Ihm nach brüllt der Donner,
und er donnert mit seinem großen Schall; und wenn sein Donner gehört
wird, kann man's nicht aufhalten. Gott donnert mit seinem großen
Donner wunderbar und tut große Dinge und wird doch nicht erkannt."
Streller hörte zu, drehte sich dann heftiglich um
und schrie: "Und der Herr antwortete Hiob aus dem Wetter und sprach:
Wer ist der, der den Ratschluß verdunkelt mit Worten ohne Verstand?"
Welch Kenntnis der Schrift mich überraschte. Fügte auch hinzu:
"Wenn das Wetter vorüber, gehe ich zu meiner Arbeit. Mögen
die Herren beim Schösser sprechen, wie ihnen lieb ist."
Sagte Herr Hoyer: "Lieber Herr Pfarrer, entschuldigen
Sie uns auf Hohnstein, ich bitte sie inständig. All Kosten will ich
Ihnen doppelt vergüten. Ist doch der Ferge Manns genug, sich seinen
Lohn zu sichern ohne unsere rätliche Beihilf."
Als das Wetter vorüber, strebte Streller rüstigen
Schrittes dahin zu seinen Hölzern, Hoyer entwandelte, Kühle,
Feuchte und erfrischtes Grün genießend, und mit Abstand hinterdrein
schlich stinkend unser lieber Kuntze, um den sich niemand kümmerte.
Ich verbrachte einen köstlichen Abend mit meinem
Freunde zu Hohnstein bei Wein und Braten auf Herrn Hoyers Kosten. Am Morgen
wanderte ich nach Schandau zurück, lüftete mein Gehirn und schmunzelte
bei der Höhle, in die wir uns gerettet, und die künftig bei allem
Volke zu aller Zeit sollte "Schandauer Ratsstube" benamset werden.
Gelobt sei der HERR, der in seiner unendlichen Güte
sogar kleinliche Dummheit mit einem Donnerwetter corrigieret.
Vor zwei Jahren, als die Schweden ins Land einfielen, hat unser königlicher Herr und Kurfürst wohl kaum bemerkt, daß die Bauern hier im Gebirge ihre alten Zufluchten wieder hergerichtet haben und es mancherorts zuging wie im großen Kriege vor siebzig Jahren. Aber das Feuer, als Fritz mit den Burschen hier oben seinen Geburtstag feierte, hat er gesehen, obwohl der Stein beinahe 200 Fuß höher als die Festung ist. Wenn er schon nicht in Warschau residieren kann, weil ihn der Schwedenkönig von dort vertrieben hat, wollte er also wenigstens den Stein besteigen. Vielleicht aus Langeweile, vielleicht, um zu beweisen, daß er trotz aller Mißerfolge noch Manns genug sei.
Wir erwarteten ihn auf der Südseite an der Stelle, wo der Pfad der Burschen vom Feldweg abzweigt und den bewaldeten Hang hinaufführt. Dort begann wohl früher auch der Zugang zu der alten böhmischen Veste, denn der Pfad ist fester gestampft, als es die Füße der Burschen vermocht hätten. Auch sind weiter oben im Felsen Tritte ausgehauen und die Widerlager für hölzerne Stufen. So ist der Aufstieg für einen gelenkigen Menschen nicht schwer zu bewältigen.
Ich stand da also mit einigen Burschen, und er kam pünktlich.
Er hatte ein kleines Gefolge bei sich aus einigen Herren, die wohl lieber
in der bequemen Festung geblieben wären, und einem Offizier mit fünf
Soldaten. Letztere waren mir lieb, denn ich fürchtete, ich würde
mit meinen Leuten die Herren nicht alle hinaufbefördern können,
und hoffte auf die Hilfe des Militärs.
Aber es kam anders. Der König klopfte mir freundlich
auf die Schulter, nickte den Burschen zu und befahl seiner Begleitung,
auf ihn zu warten. Dann zog er mit uns los. Es war eine rechte Plackerei
für den Herrn. Für die Burschen nicht, was sie sehr gewundert
hat. Er hat sich redlich Mühe gegeben, mit eigener Kraft nach oben
zu kommen, obwohl er sehr schwitzte und schnaufte. Er ist immerhin achtunddreißig
Jahre alt. Aber die Jagd hat ihn wohl trotz seines Leibesumfanges beweglich
gehalten.
Wir haben für den Aufstieg keine ganze Stunde gebraucht.
Oben verschnaufte der König ein wenig, besichtigte dann eingehend
die alten Gemäuer, kletterte auch weit auf die westlichen Felstürme
hinüber, wobei er zwei Mal einen gefährlichen Sprung wagte. Er
beobachtete eine Weile mit gerunzelter Stirn die Festung, ließ sich
aber dann auf einem Steinblock im östlichen teil der Gipfelfläche
nieder, wo man den Strom und die Ortschaften im Tale , die Steine am anderen
Ufer und die Dörfer dabei bequem betrachten und weit ins Land hinaussehen
kann. Wir boten ihm von unserem Proviant an: Rauchfleisch, Schwarzbrot,
billiger Rotwein. Er war erfreut, bediente sich genießerisch, aber
nicht unmäßig und dankte freundlich. Dann saß er und schaute.
Niemand sprach. Mancher von den Burschen schlief zwischendurch ein Weilchen.
Es war ein seltsam stiller Fleck in dem kriegsgeschüttelten Land mit
dem vom Schicksal geprüften König.
Als er sich erhob, hatte die Sonne den Scheitel ihrer
Bahn schon einige Zeit hinter sich. Es fiel ihm schwer, sich aus der Umarmung
der Landschaft zu lösen. Ohne daß wir ihn weisen mußten,
fand er zurück. Abwärts schwitzte und schnaufte er nicht, aber
zwei Burschen, die vor ihm waren, führten ihm gelegentlich den Fuß,
weil er wegen seiner Wohlbeleibtheit die Tritte nicht sah, die er benutzen
konnte. Als wir bei seinem Gefolge ankamen, das sich offenbar mühsam
durch die langweilige Warterei gehungert hatte, faßte er mich bei
der Schulter und schüttelte mich wortlos. Dann nickte er den Burschen
zu, stieg langsam auf sein Roß und ritt davon.
Einige Tage später erhielt ich vom Amtmann den Befehl,
den "Zugang auf den Felsen ersteiglicher zu machen". Zwei Steinmetzen
bekam ich dazu , einige Forstarbeiter. Ein junger Baumeister aus der Hauptstadt
zeichnet Pläne, die wir nicht brauchen, aber ich gönne ihm die
Möglichkeit, auf Kosten der kurfürstlichen Kasse in der Gegend
herumzustreifen. Die Leute werken, ich kann sie hören. Das Wetter
ist gut: trocken, aber nicht zu warm. Unten liegt ein Obelisk, der heraufgebracht
werden soll, wenn die Arbeiten beendet sind. Die Inschrift ist lateinisch.
Der Baumeister hat lange gerätselt, was sie bedeuten soll. Er kann
sie deuten, aber nicht so richtig übersetzen.
Man hört, der König habe seine katholischen
Priester ersucht, bei Sankt Ägidius für ihn um Unterstützung
zu bitten. Die Leute verwundern sich darüber, weil doch dieser Heilige
zwar ein Nothelfer ist, aber doch nichts mit Politik und Krieg zu tun hat.
Aber der Stein hier ist nach ihm benannt. Vielleicht war er es, der bewirkt
hat, daß die Schweden in Rußland einfallen wollen. Als der
Zar auf der Festung zu Besuch war, sah er ganz danach aus, als könnte
er es mit allen seinen Feinden aufnehmen.
Zwei Wochen wird es noch dauern, dann ist der Aufstieg
gebaut und der Obelisk aufgerichtet. Die Burschen werden wohl auch künftig
noch manches Fest hier oben feiern. Aber traulich und heimelig wird es
nie mehr sein.
Wie das Dorf Seltensaat wüst wurde
Keiner im Dorf Seltensaat wußte, wie man so etwas anpackt und keiner auch hätte die Mittel gehabt, es auszuführen. Alle waren Bauern. Sie verstanden genug von Feld und Vieh, manches auch von Ausbesserungen an Haus und Hof. Aber keiner kannte sich im Brunnenbau aus. So verkam die Wasserstelle unter dem Lilienstein mehr und mehr. Vor fünfzig Jahren, als die Burg auf dem Felsen noch bestand und deren Vogt sich kümmerte, brachte sie reichlich Wasser. Jetzt nun langte es nicht mehr aus, und nach einem heißen Sommer begannen die Leute, um den Bestand ihres Dorfes zu bangen.
Da entschied der Schultheiß mit landesherrlicher
Genehmigung durch Georg den Bärtigen und im Einverständnis mit
den Bauern, die Quelle zu verkaufen unter der Bedingung, daß der
zukünftige Besitzer den Wasserbedarf des Dorfes gegen Entgelt und
bei einem nur mäßigen Gewinn für sich zu befriedigen habe.
Er hielt Umschau im Land nach einem geeigneten Manne für dieses Unternehmen,
und seine Wahl fiel auf Herrn Hoyer aus Schandau.
Das war ein Kaufmann, reich geworden durch den Getreide-
und Salzhandel mit den Böhmen, lange schon hier ansässig. Sein
jüngerer Sohn Johannes hatte das Bauhandwerk in Italien von Grund
auf gelernt, und man hörte ihn häufig von den alten Aquädukten
schwärmen. Weil Herr Hoyer nahebei wohnte, traute ihm der Schultheiß
ein Gewissen für das Wohlergehen des Landes zu.
Der Kaufmann bekam die Quelle und ein Stück Land
drumherum für den sinnbildlich gemeinten Preis von einem Apfel und
einem Ei und sein Sohn übernahm es, Pläne zu zeichnen, Bauarbeiter
zu werben und für die nötigen Dinge zu sorgen. Hoyer hatte sorgfältig
gerechnet, was ihm wohl Schachtung, Abdichtung und Fassung der Quelle nebst
Brunnenhaus und Verwaltung kosten würden, und alles für sich
erträglich gefunden. Als ihm Johannes sein Vorhaben beschrieb, wurde
er unruhig. Wie der Sohn es im Süden gesehen hatte, wollte er nicht
die Quelle nur fassen, sondern auch ihr Wasser in geschlossenen Kanälen
und Röhren bis in die Höfe leiten. Das natürliche Gefälle
des Geländes fordere dies geradezu von der Vernunft.
Der Alte überlegte, wen er wohl als zweiten Geldgeber
gewinnen könnte, und fand den von Schleynitz, von niederem Adel und
auch Kaufmann in Schandau, dessen Tochter Christiane, die ungewöhnlich
gebildet war und sich selbst ketzerisch "Krystel" schrieb, eine
freiheitliche und doch recht innige Beziehung zu Johannes pflog.
Die Väter kamen überein, gemeinsam die Mittel
für das Seltensaatvorhaben aufzubringen, um damit eigene Einkünfte
für Johannes zu schaffen und dann die Kinder zu verheiraten. Für
beide war dieser Handel vorteilhaft, und den jungen Leuten war es recht.
Zwar sahen sie nicht so sehr aufs Geld, lebten in der Liebe und ihren Gedankenwelten
und verließen sich auf die Talerkisten der Alten. Aber irgendwann
- das sahen sie ein - würden sie wohl auch selbständig werden
müssen.
Im Frühjahr begannen die Arbeiter von Johannes zu
schachten und zu schaffen und erzeugten damit den ersten Ärger aus
seiner Unbedachtsamkeit. Auch während der Bauzeit brauchten die Höfe
in Seltensaat natürlich Wasser, und das war aus dem Hoyerschen Born
nun erst einmal nicht mehr zu haben. Es mußte aus anderen Quellen
weither geholt werden, und einige begannen gar, uralte Brunnen auf ihren
Höfen wieder instand zu setzen. Der alte Kaufmann witterte Gefahr
für den künftigen Absatz seiner flüssigen Ware und drängte
den Sohn, die Arbeiten zu beschleunigen und abzukürzen. Der aber ließ
sich nur wenig beeinflussen. Viele schöne Tage gab es in diesem Jahr.
Die jungen Leute zogen früh von Schandau hinauf auf die Sellnitz.
Johannes beaufsichtigte und lenkte seine Leute. Krystel kannte drei, vier
Plätze, wo sie gern saß und auf den Königstein und die
anderen Felsgebilde jenseits der Elbe oder auf die Sandsteinwände
im Osten blicken konnte. Sie führte stets eine Schreibtafel mit sich
und verfaßte Gedichte und andere Schnurren.
Mit dem Sommer ging auch der Bau zu Ende. Die Arbeiter
zogen fort, sich einer andere Anstellung zu suchen, hatten aber wohl auch
genügend verdient, um sicher über den Winter zu kommen. Johannes
entwarf ein Lagerhaus für den von Schleynitz, und Krystel saß
vor dem väterlichen Kamin, fand im Flackern der Flammen ähnliche
Anregungen wie im Flirren der Landschaft und kritzelte ihr wirres Zeug.
Auf den Höfen von Seltensaat lief das Wasser stetig und sicher aus
den Röhren, allerdings nur, wenn in der Gegenrichtung auch das Geld
floß und vom Verwalter die Schieber geöffnet wurden. Aber niemand
war so recht willens, den hohen Preis zu zahlen. Der alte Hoyer hatte zwar
aufrichtig, bescheiden und endgültig gerechnet, Abschreibungen, Betriebskosten,
Steuern, den kleinen vereinbarten Gewinn und die Ergiebigkeit der Quelle
ins Verhältnis gesetzt und trotzdem verdammt viele Pfennige für
den Trog voll Wasser herausbekommen. Der Schultheiß und auch der
Schösser in Hohnstein mußten seine Rechnung anerkennen.
Da nutzten die einen von den Bauern lieber notdürftig
ihre schlechten Brunnen, die anderen holten das Wasser noch immer von weither.
Die Befürchtungen Hoyers aus der Zeit des Baubeginns bestätigten
sich.
Im Frühjahr holte Johannes einen Teil seiner ehemaligen
Arbeiter zusammen und ein paar neue und begann mit dem Lagerhaus. Der Vater
murrte über die Spärlichkeit der Einnahmen aus dem Brunnengeschäft.
Aber der von Schleynitz, aus adeliger Tradition gewohnt, über lange
Zeiträume zu denken, beruhigte ihn.
Und siehe: Es wurde wieder einmal ein trockener Sommer.
Nur der Hoyerborn gab zuverlässig Wasser. Wohl oder übel mußten
die Bauern den hohen Preis zahlen. Nach der Ernte waren alle hoch verschuldet.
Dazu kam, daß sie ein Mißtrauen gegen den sittenstrengen Kaufmann
gefaßt hatten, wohl wegen der Baugeschichte und des hohen Preises,
und sich Geld borgten bei einem landesherrlich genehmigten, aber gerade
deshalb wucherischen Banker in Dresden. Sie feierten ein bitteres Weihnachten.
Schon im nächsten Frühjahr gab die Hälfte
der Bauern ihre Wirtschaften auf und zog davon. Hoyer brachte ihr Land
und ihre Gehöfte an sich und bot ihnen an, auf seine Rechnung für
ihn zu arbeiten. Aber sie ließen sich nicht halten.
Es dauerte noch zwei Jahre, und die gesamte Gemarkung
gehörte Hoyer. Johannes ließ die veralteten Höfe wegreißen
und baute statt ihrer eine moderne Meierei, wohin er mit Krystel zog. Diese
ergriff voller Eifer und Geschick das Zepter in Haus und Hof. Keiner hätte
dem versponnenen Weibsbild diese Zielsicherheit zugetraut. Johannes reiste
in der Gegend umher, um seine Baustellen zu betreuen. Auch des nachts waren
sie mit Freuden fleißig, denn er wußte manche reizvollen Spiele
aus dem sinnenfrohen Italien, und Krystel hatte einiges gelernt, als sie
ihrer französischen Erzieherin zusah, die nach dem Tode der Mutter
auch den Vater betreute. Ob sie von dem Fräulein unmittelbar ausgebildet
worden war, darüber schwieg sie mit einem verträumten Lächeln.
Aber ein Kind wollte sich nicht einstellen.
So lebten sie froh und zufrieden, bis die Pest über
das Land kroch. Johannes brachte sie von seinen Fahrten mit in die Meierei
und steckte auch sein Weib an. Das Gesinde floh. Krystel und Johannes tranken
ein Arkanum, das die Frau schon lange in ihrer Truhe aufbewahrte. Sie starben
in Frieden. Die unbehüteten Gebäude der Meierei gingen in Flammen
auf. Unter der Asche fand man nur noch einige Knochen und die Schädel
des Paares.
Das Volk in der Gegend schrieb die Schuld am Untergang
des Dorfes Seltensaat dem welschen Freigeist Johannes und der kinderlosen
Hexe Krystel zu, die selbst ihren christlichen Namen derart verstümmelt
hatte, daß er den kristallschützenden Berggeistern angenehm
sein mußte. So sagte man schließlich, die beiden hätte
der Teufel geholt.
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