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Tinka und Toddy waren gegen halb vier nachmittags in Horní Tanvald losgegangen, über den Hang des Spicák nach Mariánská Hora gelaufen und stiegen nun den langen Weg zu den Mariánskohorské Boudy hinauf. Die Flocken schwammen schon sanft herab, seit sie sich von dem tschechischen Jäger verabschiedet hatten, dem sie die Schlüssel zur Hütte verdankten. Sie waren gewitzt genug gewesen, gleich die Gamaschen anzulegen und die Ponchos über sich und die Kraxen zu ziehen. Dort wo der Weg nach oben sich von der Forststraße trennt, am Sattel zwischen dem Mariánská Hora und dem Bucina, erreichten sie die Höhe, wo der Schnee auf dem Wege nicht mehr taute. Es war schon dunkel geworden, und sie konnten die neue Weiße gut gebrauchen.
Die Boudy lagen verlassen. Nirgends sahen sie ein Licht. Sie gingen über die Kreuzung und bogen hinter der Hütte der Naturschützer links in den Waldweg ein, der nach Rozmezí führt. Inzwischen reichte ihnen der Schnee schon bis an die Knöchel. Sie hatten sich heiß gearbeitet und an den Innenseiten der Ponchos spürten sie gefrorenes Wasser.
"Es ist nicht mehr weit", sagte Toddy, "wir
sind auch richtig. Aber hart wird's schon noch. Der Weg bleibt schlecht."
Es war ein beschwerliches Gehen über den zerfahrenen,
meist noch ungefrorenen schlammigen Grund, dessen Tücken man unter
dem Schnee in dem kalkmilchigen Dunkel nicht erkennen konnte. Aber sie
brauchten auch für die letzten drei Kilometer nur eine Stunde. Als
sie den Schatten der Hütte zwischen den Bäumen erkannten, reichte
ihnen der Schnee schon bis an die Waden.
Ihm war es zu mühsam, wegen der Taschenlampe die
Kraxe unter dem Poncho abzunehmen. Er tastete nach dem Vorhängeschloß
und fand es, und auch das Türschloß konnte er im Dunkel öffnen.
Sie traten hinein in den Geruch aus Holz und Teer, und trotz der Kälte
fanden sie es behaglich.
Feuerzeug und Kerze waren das, was er zuerst in den Außentaschen
fand. Es wurde Licht, und sie sah sich um. Der Ofen war das Auffälligste.
Schwer gemauert stand er in der einen Ecke und nahm ein Viertel des Raumes
ein. An seiner langen Seite stand die Bank, vor ihr der Tisch. In der Schmalseite
unten, schwarz umrandet, wartete hinter einer gußeisernen Tür
die Feueröffnung. Daneben lagen Holzscheite, noch von den vorigen
Bewohnern hereingeholt. Dann kam schon die Schwelle.
In der Ecke dem Ofen gegenüber stand eine breite
Pritsche, dick belegt mit trockenem Farnkraut. Zwei Fenster spiegelten:
gegenüber dem Tisch und an seiner Schmalseite. Von außen lagen
Läden davor. Ein paar Wandborde waren da. Auf dem einen neben Gläsern
mit Salz, Mehl, Zucker, auch Kerzen und Streichhölzer.
Toddy sagte: "Das wichtigste bei der Erschaffung
der Welt waren Erde, Wasser und Feuer. Jetzt erstmal Feuer."
Es dauerte keine Minute, und im Ofen knisterte und knackte
es. Tinka saß auf dem einen Ende der Bank, hatte die Hände in
den Anoraktaschen verborgen und lauschte der Freude, die in ihr aufbrach.
Toddy zog einen riesigen eisernen Behälter aus einer
Höhlung des Ofens, nahm den Deckel ab und ging hinaus. Es freute ihn,
daß der Topf ausgegossen worden war und er den neuen Schnee nicht
mit vielleicht auch noch rostigem Wasser entheiligen mußte. Nach
dem Geräusch fand er die Quelle, füllte das Ungetüm und
brachte es mühsam und vorsichtig wieder an seinen angestammten Platz.
Dann löste er die Verriegelungen der Fensterläden, nahm den Korb
unter der Bank hervor und ging noch dreimal hinaus: zweimal um Holz zu
holen und einmal, um die Klappen aufzuschlagen und festzuhängen. Dann
verschloß er die Tür endgültig, löste seine Gamaschen
und zog die Bergstiefel aus.
Tinka stand auf, sagte: "Nun die Erde", und
begann, allerhand Hörnchen, Hähnchen und Rotwein aus ihrer Kraxe
zu fingern, während Toddy die Schlafsäcke auf die Pritsche warf
und endlich auch die Baudenschuhe erreichen konnte. Die Hütte erwärmte
sich. Schließlich saßen die beiden auf der Ofenbank und merkten
nach den ersten Bissen und den ersten Schlucken, wie sehr hungrig und durstig
sie eigentlich waren.
Auch der schönste Hunger hat einmal ein Ende (der
Durst nicht so bald). Hausfraulich-mütterlich räumte Tinka ab.
Toddy zerrte den Band Essays von diesem alten Franzosen aus dem Rucksack.
Das Buch zeigte alle Spuren von vierzig Wanderungen. Aber es war immer
noch nicht ausgelesen, vielleicht deshalb, weil so viele Seiten zwei- und
dreimal durchgeackert worden waren. Tinka brachte einen dicken Lederband
zum Vorschein. "Mein Tagebuch", nuschelte sie zur Erklärung
und begann, drin mit einem Bleistift herumzukritzeln.
Sie saßen geborgen vor Wetter und Zeit. Es war nicht
zu hören, nicht zu spüren, wie draußen die Flocken fielen
und die Minuten vorüberstrichen.
"Ist es nun ein Anfang oder ein Ende?" fragte
sie.
"Ein Anfang ist immer zugleich ein Ende, ein Ende
ein Anfang."
"Na gut, Philosoph." Dann: "Wie eine Hochzeitsnacht.
Nur, daß die beiden darin gewöhnlich nicht verheiratet sind."
"Die beiden in einer Hochzeitsnacht sind immer verheiratet",
berichtigte er sie.
"Aber miteinander", gab sie zu bedenken. Als
die Kerze erlosch, war es draußen heller als drinnen, obwohl der
Himmel sicher mit dicken Wolken von der Erde getrennt war, denn es schneite
noch immer in großen, sanften Flocken. Es war aber kein Anfang und
kein Ende, denn es war keine Zeit in der Hütte. Ohne Zeit aber gibt
es keinen Anfang und kein Ende.

Nacht mit Story und Katze
Als Kon zum siebzehnten Male in seinem Leben las, wie Nick die eingelegten Aprikosen aus der Tasse schlürfte, nachdem er seinen schweren Packen von der Station über das verbrannte Land bis zu dem Platz über dem Fluß geschleppt hatte, dem erhöhten Platz unter den Kiefern, den er sich zum Lagern auserkoren hatte, klopfte es zaghaft.
Kon schob die Petroleumlampe und das Heft auf dem Tisch
zurück, stand von der Ofenbank auf, ging aus dem Zimmer über
den kalten, dunklen, steingepflasterten Flur und öffnete die Haustür,
bereit, einen Angreifer mit lange geübtem Griff außer Gefecht
zu setzen.
Draußen, auf dem Absatz über den Stufen stand
schlank und aufrecht inmitten der gemächlich fallenden Flocken eine
junge Frau in Wanderkleidung und mit einem erheblichen Rucksack auf dem
Rücken. Blonde Locken quollen unter ihrer Kapuze hervor, daß
er anfangs dachte, es wäre der Rand eines Pelzfutters. Als sie ihn
sah, begann sie tschechisch etwas zu erklären, was er nicht verstand.
Für solche Fälle hatte er ein geflügeltes Wort bereit: "Pomaleji,
prosím, langsamer bitte, rozumím cesky jen trochu."
Entweder kramte das Gegenüber dann seine Deutschkenntnisse aus, oder
es begann wirklich, langsamer und deutlich zu sprechen. So verstand Kon
jedes dritte Wort. Das reichte gewöhnlich.
Diesmal verstand er "sníh" und "mráz"
und "unavená". Der nächste Ort war vier Kilometer
und beinahe vierhundert Höhenmeter entfernt. Er trat zur Seite, um
die Frau herein zu lassen.
Im Flur noch wischte und schüttelte sie den Schnee
von Rucksack und Kleidung, dann trat sie ins Zimmer und zog gleich die
Wanderstiefel aus.
"Chcete caj?" fragte er, worauf sie nickte und
er von dem immer leicht kochenden Wasser auf der Herdplatte in einem Glas
einen Teebeutel aufgoß. Sie holte zwei Hörnchen und ein Stück
Käse aus dem Rucksack, setzte sich auf die Ofenbank, zog sein Heft
zu sich und blickte lange nachdenklich auf den Titel und die ersten Zeilen
der Story. Dann schob sie das Heft weg und begann, an den Hörnchen
und dem Käse zu knabbern und von dem heißen Tee zu nippen. Er
setzte sich wieder an seinen Platz und las langsam Wort für Wort weiter,
wo er aufgehört hatte, als sie klopfte. Er konnte den Text beinahe
auswendig, ärgerte sich aber, daß er mit der Übersetzung
diesen Kult trieb. Das Original verstand er zwar, aber es blieb ihm fremd.
Als die junge Frau Hörnchen und Käse aufgegessen
hatte, holte sie einen Block und Stifte aus ihrem Rucksack und begann zu
zeichnen. Forellen, die aus dem Wasser sprangen, Kiefern mit einem Zelt,
die verbrannte Stadt Seney mit den Grundmauern des Mansion House Hotels
und stehengebliebenen Schornsteinen, die Hemingway gar nicht erwähnt
hatte. Ein Männerkopf war auch dabei, ein seltsames Gemisch aus dem
Gesicht des Amerikaners, wie man es von Fotos aus seinem Alter kennt, und
den Zügen von Kon. Das war wohl Nick. Dann wurden ihre Striche langsamer,
unsicher. Sie warf gelegentlich ein Blatt zerknüllt auf den Boden.
Ihre Augen starrten angespannt und zornig. Er wußte, womit sie nicht
zurecht kam. Es war der Große doppelherzige Strom. Der Amerikaner
hatte beinahe siebentausend Worte für ihn gebraucht.
Das Mädchen starrte Kon verzweifelt an. Er schüttelte
den Kopf. "Nemozné", sagte er. Aber sie begann wieder.
Verworrene Striche, ungegenständlich, ungeordnet. Schließlich
gab sie es endgültig auf. "Barvy", sagte sie. Aber auch
farbig würde sie es nicht schaffen. "Nemozné", sagte
er wieder.
Sie drehte die Flamme der Petroleumlampe klein und legte
sich rücklings auf die Ofenbank, den Kopf auf seinen Oberschenkel.
Er blickte in ein ernsthaftes, nachdenkliches Gesicht. Dann begann er leicht,
über ihren Pullover zu streichen, dort wo sich darunter schwach ihre
kleinen Brüste erhoben. Sie atmete schwer.
In der gegenüberliegenden dunklen Ecke des Zimmers
erhob sich räkelnd eine Katze, die dort auf einem Packen Kissen geschlafen
hatte. Er konnte sich nicht an das Tier erinnern. Im Haus war es nicht
gewesen, als er nachmittags gekommen war, und hereingelassen hatte er es
auch nicht. Die Katze stakte steifbeinig und vorsichtig quer durch das
Zimmer herüber, sprang auf die Ofenbank, rollte sich an seiner freien
Seite zusammen und schnurrte tief zufrieden.
Draußen vor dem Fenster fielen noch immer die sanften,
großen Flocken. Sie fielen gerade herunter, obwohl ein Wehen zu hören
war, als bewege sich das Haus gleichmäßig und irgend etwas fließe
schmeichelnd an ihm vorbei.
Er strich weiter über die Brüste der jungen
Frau, deren Atem in ein leises Stöhnen überging. Sie lockerte
den Bund ihrer Daunenhose, damit ihre Hände freies Spiel bekämen.
Schließlich schrie sie fast. Dann legte sie sich still auf die Seite,
den Kopf immer noch auf seinem Oberschenkel, und ihm war, als ob nun auch
sie schnurrte. Er angelte die Decke vom Stuhl an der Schmalseite des Tisches
und hüllte den weichen Körper ein.
Die Katze räkelte sich erneut. Sie tappte vorsichtig
über die Decke und kuschelte sich dann in die Kniekehlen der Frau.
Als er fröstelte und erwachte, füllte schneeweißes
Licht das Zimmer. Die Katze lag auf der Decke neben ihm. Aber die Frau
war fort. Er suchte nach den Spuren von der Nässe an ihren Bergstiefeln
und fand nichts. Als er Wasser holen ging, war die Haustür von innen
verriegelt. Nur vor dem Feuerloch am Ofen lag ein kleines Stück Zeichenkarton
mit einem seltsamen Krakel darauf.
Dann frühstückte er, kraulte die Katze, die er nicht hereingelassen hatte, die jedoch neben ihm saß, und dachte an die verlorene Frau, die immerhin über den Flur in die Stube gegangen war, an die verbrannte Stadt Seney und an das nächtliche Wehen ums Haus. Er war unzufrieden und glücklich.

Eigentlich war Bartel zeitig genug losgewandert, um noch
bei Tageslicht hinunter bis an den Strom und die Bahnstation zu gelangen,
aber dann hatte es begonnen zu schneien.
Das beunruhigte ihn anfangs nicht. Er war den Weg schon
mehrmals gegangen, der im Tal mit der verlassenen, gleislosen Eisenbahnstrecke
meist über die Wiesen führte, ab und zu über einen Steg
und an engen Stellen, wo sich der Zug vor vielen Jahren durch Tunnel gezwängt
hatte, gelegentlich auch etwas den Hang hinauf. Aber allmählich wurde
er dann doch unsicher. Der Pfad verlor sich mehr und mehr unter der Schneedecke
und war auf den flachen Wiesen kaum mehr zu erkennen. Das Ziel schien nicht
mehr bei Tageslicht erreichbar zu sein, denn Bartel wurde immer langsamer.
Mit vier Kilometern in der Stunde hatte er gerechnet auf dem ebenen Gelände.
Jetzt schaffte er nur noch drei. Wenn ihm der Schnee dann bis über
die Knöchel ginge, würden es wohl gerade mal zwei sein.
Tatsächlich dunkelte es sehr schnell. Er fühlte,
daß er keinen Weg mehr unter den Füßen hatte, sondern
über die blanke Wiese stapfte und bemühte sich, den Bahndamm
zu erreichen. Aber auch der würde keine ausreichende Sicherheit bieten.
Die Brücken waren nicht alle mehr begehbar. Bartel rechnete auch damit,
daß die Tunnel inzwischen zugemauert waren.
Er fand einen Fahrweg, der quer über die Wiesen zur
alten Strecke führte. Am Übergang stand noch das Häuschen
des Schrankenwärters. Darin brannte Licht. Irgend jemand hatte das
Büdchen wohl billig erworben, und nutzte es als Wanderhütte.
Bartel klopfte. Nach einer Weile öffnete sich ruckartig die Tür.
Er sah vor sich eine zierliche blonde Frau in anliegenden dunklen Sachen.
Sie stand in einer eigenartigen Haltung da, als wolle sie gleich irgendeine
asiatische Kampftechnik anwenden.
"Guten Abend", sagte Bartel, "entschuldigen
Sie bitte die Störung. Ich finde den Wanderpfad über die Wiesen
nicht mehr. Sagen Sie mir bitte, wo dieser Weg hier hinführt oder
wie ich sonst einigermaßen sicher hier weiterkomme!"
Die Frau dachte ein wenig nach und antwortete dann: "Sicher
kommst du heute gar nicht mehr aus dem Tal raus. Am besten ist, du bleibst
über Nacht hier. Komm rein!" Sie trat zur Seite.
Bartel schüttelte den Schnee vom Poncho, und gleich
als er die Schwelle in den Flur überschritten hatte, löste er
die Gamaschen und zog die Bergstiefel aus. Dann fitzte er sich aus dem
Poncho, setzte den Rucksack ab und hängte Hut und Anorak an einen
Haken. Die Frau öffnete die Tür zu einer Stube, von der Bartel
als erstes Wärme, eine Bank, einen großen Kachelofen und einen
beleuchteten Tisch mit verstreuten Papieren warnahm. Die Frau wies auf
ein Ende der Bank, etwas entfernt von den Papieren. Er setzte sich. Aus
einem Wandschrank holte sie eine riesig anmutende Steinguttasse von der
Art, wie schon eine auf dem Tisch stand. Sie goß heißes Wasser
aus dem Topf in der Ofenhöhle hinein, warf einige Stücke Würfelzucker
hinterher, rührte sorgfältig und nachdenklich um. Schließlich
fügte sie einen mächtigen Schuß einer bräunlichen
Flüssigkeit hinzu. Dann stellte sie die Tasse vor Bartel hin, erhob
die andere und sagte:
"Verena."
Bartel griff zu der seinen und antwortete: "Bartel."
"Mach dir's bequem." Sie setzte sich zu ihren
Papieren, schrieb zwischen langen Denkpausen kurze Sätze oder strich
weite Strecken aus.
Bartel holte aus dem Rucksack ein Buch dieses schmalgesichtigen
Poeten, dessen Gedichte man lesen mußte, als wären sie Prosa.
Sie fingen dann ganz wundersam zu schwingen und zu klingen an, so verführerisch,
daß schließlich Tisch und Ofen und das ganze Häuschen
mitschwangen und mitklangen.
Aber plötzlich war Stille. Dahinein drang ein rhythmisches
Schlagen vermischt mit einem Schnaufen. Schließlich pfiff eine Lokomotive.
Erstaunt sah er Verena an.
"Wieso fährt er noch?"
"Seit die Strecke eingeweiht wurde, fährt er
schon immer um diese Zeit", antwortete sie, obwohl das gar keine Antwort
auf seine Frage war. "Es ist der Abendzug."
"Komm, wir gehen schlafen", sprach sie ihn nach
einer Weile an und fügte schnell hinzu: "Keine Angst. Ich bin
auch nicht mehr die jüngste."
Als sie still im Bett nebeneinander lagen, kam ein gleichmäßiges
Rollen das Tal herunter.
"Der Aufseher mit der Draisine. Er fährt zu
seinem Hause an der Hauptstrecke. Besichtigt dabei noch alles. Die letzte
Fahrt heute."
Dann schliefen sie ein.
Bartel erwachte in gleisender Helle, stahl sich von Verenas
Seite, zog seine Sachen an, nahm den Rucksack auf und machte sich davon.
Es schneite nicht mehr. Der Pfad über die Wiesen war deutlich zu erkennen.
Als er sich umdrehte, sah er das Schrankenwärterhäuschen weit
hinter sich.
An der Bahnstation verwunderte ihn, daß es schon
später Nachmittag war. Aber seine Armbanduhr bestätigte ihm die
Zeit.
Dann löste er die Fahrkarte und stutzte über
das Datum. Aber auch diesmal wurde ihm versichert, daß es richtig
sei. Zwischen Anfang und Ende seiner Wanderung hatte es nur für ihn
diese Nacht gegeben.

Die Schloßjungfrau zu Schandau
"Nicht alles, was in Büchern steht, ist richtig.
Vermutlich ist sogar das meiste falsch.
Daß ich nur aller fünfhundert Jahre erlöst werden kann, zum Beispiel, stimmt nicht. In solch einem Zeitraum ändern sich die Denkweisen der Menschen derartig, daß die gestellten Bedingungen gar nicht mehr ordentlich wirksam werden. Außerdem gewöhnt man sich an den Zustand und hat keine Lust mehr, ihn zu verändern. Der Herr Meiche hätte dann auch gar nicht von mir berichten können. Die ersten fünfhundert Jahre waren zu seiner Zeit noch nicht vorbei."
Ich schrak auf, klappte das Sagenbuch zu, dachte, daß
ich jetzt erst einmal eine Runde schlafen müsse, blickte aber trotzdem
vorsichtig neben mich.
Was so gelehrt zu mir sprach, war ein junger Mensch weiblichen
Geschlechts, auf den die Bezeichnung Fräulein im alten Sinne des Wortes
ausgezeichnet paßte. Sie war fein, bescheiden, den Umständen
und dem warmen Frühlingswetter entsprechend angezogen, trug wohlgekämmtes,
empfindsam geschnittenes, blondes Haar, hatte eine glatte, nicht zu weiße
Haut und vollführte abgewogene Bewegungen.
"Auch die Bemerkung mit dem Goldschatz ist erlogen.
Die Überbleibsel hier sind von einer kleinen Fortifikation. Eine Handvoll
Reiter sollte den Elbübergang schützen."
Ich fand mich mit der Lage ab und dachte mir, Fragen bringt
mich zurück in die Wirklichkeit.
"Aber wieso geistern dann Sie hier herum?"
"Eine gewöhnliche Geschichte. Einer von der
Besatzung trieb es manchmal mit unserer Jungmagd in der Scheune. Ich war
damals ein dummes, kindliches Ding und sah unbemerkt zu. Erst neugierig,
dann leidenschaftlich. Ich hätte mich auch gern beteiligt, wußte
aber nicht, wie ich es anstellen sollte. Jedenfalls verliebte ich mich
regelrecht in ihn.
Als der recke zcum wintersteine belagert wurde,
die Berken sich von ihm losgesagt hatten und er seine Burg an den Städtebund
verkaufen mußte, verloren die Reiter hier ihren wichtigsten Rückhalt,
denn sie hatten ihm mit Nachrichten zugearbeitet. Weil viele Mägde
in der Stadt von ihnen belustigt worden waren, und auch allerlei Räubereien
und Drangsalierungen auf ihre Rechnung gingen, stürmten die Schandauer
das Fort und brannten es nieder.
Ich wollte mein Idol warnen, fand in die Befestigung hinein,
aber nicht wieder heraus und kam im Feuer um. Mein Vater war Kaufmann,
angesehen wegen seines Geldes, aber auch angefeindet, weil er aus Böhmen
stammte. Er sah sich genötigt, mich zu verfluchen.
Dort", sagte sie und deutete vage auf ein Gebüsch,
"handelten ein Schwarz-Roter und ein Weiß-Goldener den Verbleib
meiner Seele aus. Der Schwarze war im Nachteil, weil ich aus Liebe gehandelt
hatte, aber der Weiße konnte sich auch nicht durchsetzen, wegen des
Fluchs und weil meine Liebe doch nicht so ganz göttlicher Vorschrift
entsprochen hatte. Sie einigten sich schließlich auf ein Erlösungsabkommen."
Ich vermutete einen ganz blödsinnigen Ausdruck auf
meinem Gesicht, starrte die kühle Erzählerin aber unverwandt
an.
"Na, wie ist es, wollen Sie mich erlösen? Ein
Schatz ist allerdings nicht zu haben, wie Sie wissen. Ich kenne zwar ein
paar Goldseifen in der Zauke, die die Wäscher seinerzeit nicht gefunden
haben, aber damit können Sie heutzutage doch nichts anfangen."
Ich dachte mir, daß es mit dem Untier, als das sie
dann auftauchen würde, so schlimm nun nicht sein könnte, und
fragte:
"Wann?"
"In fünf Tagen, also am fünfundzwanzigsten,
fünf Stunden nach Sonnenaufgang."
Ich nickte. Als hätte ich damit einen Schalter betätigt,
war sie verschwunden.
Pünktlich saß ich dann wieder auf dem Schloßberg,
pünktlich tauchte auch das Untier auf. Es war eines von den schwarz
und schlampig gekleideten Mädchen, deren Gesichtshaut durch Zigarettenrauch,
Schlafmangel und ungestillten Bedarf an Licht und Luft verunstaltet ist.
Sie trug an einer groben Kette ein großes Henkelkreuz um den Hals,
kunstlos aus Zinn gegossen. Am meisten aber fielen ihre riesigen schwarzen
Lederschuhe auf, die deutlich zeigten, wie sehr das Weib über den
Onkel lief.
"Da guggst'e, was?" Sie hockte sich neben mich.
"Na los. Dreie sinn Flicht!"
Ich grub verzweifelt in meinem Gedächtnis nach, ob
Aids auch schon durch Küssen übertragbar sei, fand nichts, dachte
mir aber, so schlimm würde es nicht gleich werden. Also nahm ich ihren
Kopf in meine Hände und küßte sie beinahe gefühlvoll,
probierte auch, ein wenig mit der Zunge zu spielen, worauf sie aber nicht
einging. Als ich sie losließ, sah sie mich ein wenig verschleiert
und verwirrt an, sagte aber nichts und fing sich nach einer kleinen Weile.
Da wagte ich die zweite Ausfertigung, bemerkte etwas mehr Entgegenkommen:
Ich konnte ihr sogar ein wenig die Zähne öffnen. Die Dritte nun
gar verlief in schönem Überschwange. Das Mädchen ließ
sich los, wurde aber kein bißchen wild.
Nachdem ich sie freigegeben hatte, setzte sie sich aufrecht
hin und sprach die Worte:
"Wenn de denggst, nu gannst'e mid mir rumbummsen,
da irrst'e dich."
"Ich denke das nicht. Von Rumbummsen steht nichts
in der Sage."
Sie blickte in die Ferne. Ich tat es ihr nach. Draußen
flimmerte das Sonnenlicht im gelblichen Frühlingsgrün. Der Wind
streifte vorsichtig über das Gras. Drei weiße Haufenwolken schmückten
den Himmel. Als sie sich regte, wandte ich mich nach ihr um.
Da stand sie, in ein langes, glattes Gewand aus hellbraunem
Leder gekleidet. Durch Schlitze im Rock und den Ärmeln leuchtete rote
und grüne Seide. Ihr Haar war nun kastanienfarben. Das braun-grün-rote
Barett saß gerade und sittsam darauf.
"Mêj se dobre", sagte sie, "mêj
se dobre, a zustan láskyhodným muzem, jestli je mozný.
Mêj se dobre." Dann waren da nur noch das Flimmern, die Wolken,
das gelbe Grün und eine sanfte Müdigkeit.

Es ist freundlich, wenn an hervorragenden Stellen in Landschaften
Bänke, Schutzhütten und Tische aufgestellt werden. Dem Wanderer
wird die Rast angenehm gemacht. Obwohl er gern auch darin schwelgt, im
Gras zu sitzen, den Rücken an einen Stein oder einen jungen Baum zu
lehnen und in einen weiten Ausblick zu träumen. Allerdings locken
Bequemlichkeiten oft Menschen an, die nicht kommen, um zu erleben, sondern
nur, um ihre Liste vollzogener Standorte zu ergänzen. Sie zerstören
mit Geschwätz, Geschrei, Tumult und Dummheit jede stille Freude.
Deshalb war ich erst mit beginnendem Abend auf den Kleinen
Bärenstein gestiegen, wo auf dem Fleck des verschwundenen Gasthauses
all die Annehmlichkeiten aufgebaut sind, die tagsüber die Schwärme
der Ausflügler anziehen. Denn die finden sich spät am Tage nicht
mehr ein, weil sie ihre gewohnte Abendbrotzeit nicht versäumen wollen
und weil sie einen Abstieg in der Dämmerung oder gar im Dunkeln fürchten.
Ich hatte mir Kaffee gekocht und aß.
Schwerfälliges Tappen von Bergstiefeln ließ
mich aufhorchen. Am Ausgang der alten Treppe tauchte einer von den uralten
Bergsteigern auf, die man gelegentlich im Gebirge trifft. Wenn sie wandern,
gehen sie meist allein, denn ihre jungen Freunde wollen lieber klettern
und ihre alten sind weggestorben. Man sieht sie manchmal auch noch am Felsen,
auf klassischen Wegen, meist nicht den einfachsten. Spüren sie, daß
man ihnen geneigt ist, stürzen sie sich gierig auf die Gelegenheit,
ausgiebig zu schwatzen. Sie laufen in alten Baumwollanoraks herum, mit
Pudelmützen oder ausgebleichten Hüten voller Abzeichen, in Kniehosen
aus Kord, Bergstiefel einer längst verschollenen Form aus glattem
Leder an den Füßen und mit zerschlissenen Rucksäcken, die
ihnen faltig von den Schultern hängen. Immer wirken sie krummbeinig,
aber ihre Knie federn beim Gehen.
"Guten Abend", sagte er. Und: "Guten Appetit."
Und: "Freut mich, daß sie an einem Stück Wurst kauen und
nicht an einer Möhre. Nimmt ja seltsame Formen an, die Esserei heutzutage.
Mein Freund Denni Buhn damals im Westen ist schließlich auch wieder
von der milden Kost frommer Denkart abgekommen."
Ich starrte ihn an. Wenn er wirklich Daniel Boone meinte,
war das mehr als zweihundert Jahre her.
"Guten Abend", erwiderte ich schließlich.
Und: "Danke." Und: "Ich bin doch kein Karnickel."
"Denni war auch keins. Er hielt sich nur damals besonders
an die Bücher Mose, wo doch alles so schön einfach beschrieben
ist. Er zog die Grenzlinien zwischen den Menschen nicht zwischen Weiß
und Rot oder Weiß und Schwarz und schon gar nicht zwischen Schwarz
und Rot, sondern nur zwischen Gut und Böse. Daß verhältnismäßig
viele Indsmen auf die böse Seite gerieten, lag nur an ihrem fiesen
Charakter. Als er dann Boonsborough gegründet hatte, verschob sich
auch einiges. Jetzt zählten eine Menge von Trappern, diesen armen
Hunden, zu den Bösen. Denn Neid auf Reichtum macht gierig und aufsässig.
Die Händler von der Ostküste wechselten mehr und mehr auf die
gute Seite."
Na, mein Lieber, dachte ich, du kommst aus einer ganz
schön roten Seilschaft.
"Aber mit der Ernährung bekam er Schwierigkeiten.
Er nahm die Sache mit dem allerlei Kraut und den allerlei fruchtbaren Bäumen,
die GOTT der HERR Adam und Eva allein zur Speise gab, in der Kindheit sehr
ernst und aß kein Fleisch. Als er in die Wälder ging, wurde
ihm das schwer, denn der Mensch, der dauernd in Bewegung und auf Angriffe
gefaßt sein muß, braucht etwas Ordentliches zwischen die Zähne,
und ein Viehzeug ist schneller geschossen als die notwendige Menge Kräutlein
und Sämlein gesammelt. Da fand er schnell heraus, daß GOTT dem
Abel mit seinen Hammelherden besser gesonnen war als dem Kain mit seinen
Früchten des Feldes, betrachtete das zwar nicht als Selbstkritik des
HERRN, denn eine solche war schlechterdings unmöglich, sondern lediglich
als Anlaß, die Dinge im Zusammenhang zu betrachten.
Auch die Auslassungen von GOTT dem HERRN über die
Vermehrung nahm er sehr wörtlich, und er verstreute seinen Samen hart,
aber gerecht über alle Töchter des Landes. Er war ein starker
Mann, und als wir einmal am Green Creek, so einem kleinen, schweigsamen
Flüßchen - heute ist es längst eine Kloake - herumkrochen
und wochenlang keine Menschenseele, geschweige denn einen Weiberkörper
gesehen hatten, versuchte er es sogar mit der Hündin, die uns zugelaufen
war. Aber die wehrte sich unverständlicherweise und ließ sich
auch nicht mit Feuerwasser willfährig machen wie die Indianerinnen.
Was das Essen betrifft, scheint er von seinen Zweifeln
nicht losgekommen zu sein. Ich habe gehört, als er seßhafter
wurde, hätte er wieder mit dem Gemüse angefangen. Ist auch schwer
zu verstehen, was der alte Mose wirklich gemeint hat. Aber wahr ist das
schon, was da steht, daß der Vegetarier Kain den Hammelbrater Abel
erschlagen hat. Das versuchen die Kains doch heute auch. Allerdings verzichten
sie auf das nachträgliche Zeichen des HERRN, denn sie haben keine
Furcht, daß sie einer totschlage, der sie findet, denn wir leben
in einem Rechtsstaat. Da hat derjenige Vorteile, der zuerst totschlägt.
Er kommt in ein wohlausgestattetes Gefängnis und lebt fürderhin
bequem. Nicht zu vergleichen mit dem dauernden Rumgeschleiche im Gestrüpp
wegen der Indsmen und dem Planschen im Wasser wegen der Fallen.
Aber sie streiten gegen GOTTES Gebot, wenn sie vom Schutze
unseres Planeten schwafeln. Denn der HERR hat wohlweislich gesagt: Seid
fruchtbar und mehret euch und füllet - wirklich: füllet - die
Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im
Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles
Getier, das auf Erden kriecht. Die Herrschaft wird wohl eine Intensivhaltung
sein müssen und die allmähliche Vernichtung allen grünen
Krautes und aller fruchtbaren Bäume, weil anders die Fülle nicht
ernährt werden kann. Denn SEINE Absicht war wohl, daß die Erde
genauso wenig unsterblich sein sollte wie seine andere Schöpfung.
Gegen SEIN Gesetz läßt sich nicht verstoßen."
Der Alte schwieg, sah hinüber nach der Festung, wo ein Fenster nach dem anderen aufleuchtete, hinunter nach Weißig, das einen Dunstschleier über sich zog und nach der schwarzen Masse des Großen Bärensteines. Dabei wurde seine Gestalt immer durchsichtiger, bis sie sich ganz im Gewirr der Birken aufgelöst hatte.

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