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Hin und wieder sieht man in der Sächsischen Schweiz Wanderer mit auffällig großen Rucksäcken. An den Touristenmeetings drücken sie sich meist scheu vorbei. Nur einige schreiten aufrecht und verächtlich durch die Menge. Ihr eigentlicher Ort aber sind die einsamen Gebiete weit genug entfernt von den Parkplätzen.
Oft sind die Rucksäcke nicht nur groß, sondern
auch schwer. Ihre Träger setzen langsam Fuß vor Fuß, schwitzen
aber nicht, und außer der Gangart bemerkt man kein Zeichen von Anstrengung
an ihnen.
Kletterer tragen so ihre Ausrüstung mit sich herum.
Auch die modernen Seile, Schlingen und Schnüre sind umfangreich und
Karabiner schwer. Aber der Verdacht liegt nahe, daß sie sonst noch
vielerlei mit sich schleppen: Schlafsack und Matte, Kocher, Taschenlampe,
Pullover, reichlich Proviant, Wasser, Fotoapparat und Tagebuch.
Und auch solche, denen man selbst leichte Kletterwege
kaum zutraut, schleppen sich unmäßig ab.
Mit unnützen Gegenständen?
Woran sie tragen, sind Ängste und Hoffnungen. Die
meisten ihrer Hoffnungen sind auch Ängste und die meisten Ängste
Hoffnungen.
Die Wolken hängen tief. Schon auf der Ebenheit wird
Nebel sein. Vor vielen Jahren einmal haben sie sich im Zschand bei Nebel
verlaufen, einen anderen getroffen, der auch nicht wußte, wo er war.
Ihre Hoffnung befürchtet, es könnte heute wieder
geschehen. Heute sind sie gerüstet. Heute haben sie alles bei sich,
um unter einem Überhang auf besseres Wetter harren zu können.
Damals wollten sie nach Hause. Sie hatten dies und jenes
vor.
Bald aber verklärte sich ihnen das Erlebnis. Heute
warten sie , daß es wieder geschehen möge. Sie hoffen auf Stunden
der Stille und Abgeschiedenheit, auf dieses satte Gefühl duldender
Ruhe, auf die Umarmung der Landschaft.
Ihre Hoffnung wird kaum in Erfüllung gehen. Sie kennen
sich inzwischen zu gut aus. Und wirklich dichte Nebel sind sehr selten.
Sie könnten zwar so tun, als hätten sie sich verirrt. Manchem
Phantasten gelingt es. Aber die meisten sind zu ehrlich dafür.
Sie schleppen ihre großen Rucksäcke durch das Gebirge, Rucksäcke, schwer gefüllt mit Sehnsucht.

Eine von diesen Gefühlsregeln, die er aus der Kindheit
mitschleppt, heißt: Schuhe wirft man nicht weg, und auf gar keinen
Fall verbrennt man sie. Dieser Satz stammt wohl aus der kargen Nachkriegszeit
oder von noch viel früher, als sie die wertvollsten und langlebigsten
Kleidungsstücke waren. Er versteht nicht, wie sich in den großen
Geschäftsstraßen die Schuhläden so dichtgedrängt halten
können. Wie oft müssen doch die Leute ihre Schuhe wegwerfen,
wenn diese Läden alle ihren Umsatz machen sollen!
Er versteht nicht und wird nicht verstanden. Niemand begreift,
warum er sommers mit seiner verblichenen Baumwolljacke in die Berge zieht
und im Winter in einer Lodenjoppe, warum er seinen Hut, der ursprünglich
vielleicht einmal als Steinklopfer geformt war - oder auch nicht - noch
immer trägt, statt ihn gegen eine moderne Wettermütze auszutauschen.
Keiner kann sein Lächeln nachempfinden, wenn er am Rastplatz mit der
Hand in die Tiefe seines Rucksackes fährt und die Wärme spürt,
die mit der Teeflasche hineingelangte und durch sorgfältige Anordnung
der Gegenstände über lange Stunden aufbewahrt worden ist.
Seine Bergstiefel hat er in einem der teuersten Läden
gekauft, nach langer Beratung mit einer freundlichen jungen, aber sachverständigen
Verkäuferin und nach einer unendlichen Geschichte mit reibenden und
drückenden Vorgängern. Ihre Schrammen erzählen von seinen
Touren, glücklichen und alltäglichen, gewagten und gefährlichen,
anstrengenden und spielerischen. Die Senkel haben Rillen ins Leder gedrückt
und Falten zusammengeschoben. Aber das Profil der Sohlen reicht noch immer
aus. Es lohnt sich, teure Ware in einem guten Geschäft zu kaufen.
Diese neumodischen dünnen Anoraks mag er nicht. Er
traut ihnen zu, daß sie bei der ersten Berührung mit einem kantigen
Stein zerfetzen. Seine Jacke ist dicht und schwer und muß regelmäßig
mit essigsauerer Tonerde imprägniert werden. Sein Rücken hat
sie über Felsen geschabt, sein Kopf sie als Kissen benutzt, und sie
hat die schlagenden Zweige der Dickungen gespürt. Legt er sie zusammen,
erwidert sie seinen Händedruck.
Er vertraut auch seiner Lodenjoppe, die im Winter den
Körper warm hält und den Schweiß nach außen befördert,
wo sie bald pulvriges Eis bedeckt. Einmal war der Hüftgurt des Rucksacks
auf ihr festgefroren.
Mit allen seinen Sachen kann er über gemeinsame Erlebnisse reden, wenn er dahockt zu Hause oder irgendwo in der Landschaft. Trauliche, aber auch traurige Worte sind es zumeist. Denn die Bunten, Lärmenden verdrängen ihn von seinen liebsten Gipfeln, aus seinen heimlichsten Schluchten, von seinen lieblichsten Wiesen.
Er gehört zu einer aussterbenden Art, ungeschützt durch Wildhüter und Stiftungen.

Das Urvieh ist einer von den neueren Kletterfelsen. Es hockt bei den Lehnsteigtürmen auf der Südseite des Breiten Horns und konnte sich lange klein genug machen, so daß es von den Erfolgshungrigen, die zu den Gipfeln weiter vorn strebten, übersehen wurde. Schließlich fanden die Herren Klettergewaltigen Ludewig, Golbs und Heinicke aber doch heraus, daß es das Mindestmaß für einen Klettergipfel hatte, und kraxelten zielstrebig an ihm herum. Neunzehnhundertachtzig fanden sie zwei dreier Wege und einundachtzig noch ein paar siebener dazu.
Nach einer Weile hörte unser Horst davon, und wie er so ist - ein bißchen rechthaberisch, ein bißchen spöttisch und dazu immer bereit, großartiges Getue auf ein ehrliches Maß zurückzuführen - ging er los, sich die Sache zu besehen. Von oben natürlich. Auf dem schnellsten Wege. Das aber war ein neuer und nach Horstens Meinung nur eine Eins.
Nun ging der Knatsch los. Der Alte Weg eine Drei, gemacht
von Könnern mit Ämtern. Und dann findet dieser hinterlistige
Linke eine Eins! Da müßte man doch die Abseilöse wieder
herausbrechen! Das kann nicht sein!
Die sonst unliebsam gestrengen Herren, knauserig mit Schwierigkeitsgraden, stuften den Weg endgültig als Drei ein. Horst knurrte erst, dann feixte er.
Wenn mal jemand schnell aufs Urvieh will, nehme er also den Bergweg! Das ist nur eine Eins.

Die Sonne sinkt zum Horizont, aber der Himmel bleibt fahlblau. Wolkenstreifen heben sich kaum von ihm ab. Die Wiesen verschwimmen in einem weißlichen Grün. Es ist noch warm. Aber die Feuchtigkeit der Luft läßt eine kühle Nacht erwarten.
Der alte Mann sitzt still vor seiner Hütte in der Kuhle unter der ausladenden Straßenkurve. Vom Abend ungebrochen rauscht über ihm der Verkehr. Er hört ihn kaum. Der meiste Lärm streicht oben hinweg. Reste siebt ein Streifen Gesträuch, ehe sie die Ohren des Versunkenen erreichen. Und er ist seit Jahrzehnten daran gewöhnt.
Damals nach dem Kriege war die Straße schon genauso
breit wie jetzt und hatte auch schon das Pflaster aus kleinen Granitsteinen.
Die Nazis hatten ihre Straßen vorausschauend gebaut: geräumig,
fest, die Kurven weit, wo es möglich war. Nur wenige Fahrzeuge benutzten
sie: Benzin und Technik waren knapp.
Er wollte Elisa und Susan das Dorf zeigen, aus dem seine
Eltern in den Roaring Twenties nach den Staaten ausgewandert waren. Frau
und Tochter wohnten einige Wochen als Besucher in der Bamberger Garnison.
Sein Commander gab ihm Urlaub für den Trip. Die Russen waren noch
ganz freundlich. Ein Kollege aus einer der neuen deutschen Zeitungen lieh
ihm das Auto. So stand der Fahrt nichts im Wege.
Sie trödelten in ihrem Wagen gemächlich dahin.
Es war ein Vormittag im März. Tag und Frühling lagen vor ihnen.
Die Straße senkte sich etwas nach der Kuhle zu, die Kurve holte weit
aus. Sie war spiegelglatt. Der Wagen glitt seitlich weg, polterte nach
unten. Die Drei wurden hinausgeschleudert. Dann explodierte der Tank.
Als der Mann zu sich kam, lag er auf einem Brettertisch
in einem Schuppen. Unbekannte bewegten sich um ihn. Er versuchte, nach
Susan zu rufen, brachte aber nur ein Murmeln zustande. Ein älterer
Herr mit Metallbrille und grauweißem Spitzbart beugte sich über
ihn, flößte ihm eine Flüssigkeit ein, die er gierig trank,
und sagte dann:
"Schlafen Sie erst mal."
Elisa und Susan waren tot. Er quittierte seinen Dienst
so schnell es ging, fuhr in die Staaten, legte sein Vermögen möglichst
sicher an, kehrte nach Deutschland zurück, kaufte die Kuhle unter
der Straße und baute den Schuppen so weit aus, daß er darin
wohnen konnte.
Frau und Kind lagen auf dem Friedhof drüben im Dorf
begraben. Das war wohl der Grund dafür, daß ihm die Leute wohlwollend
begegneten, obwohl sie seine Lebensweise nicht verstanden. Hierzulande
war es üblich, erst einmal ein festes Haus zu haben und dann einen
Kühlschrank. Er aber ließ Elektro- und Telefonkabel zu der Bretterbude
legen. Er machte sie fest und dicht, stattete sie innen mit allen Feinheiten
einer modernen Wohnung aus und begann mit Hilfe seiner Dollars ein Leben,
daß er bis heute fortgeführt hatte. Man nannte ihn Wilder Mann,
wie früher die Einsiedler in den Wäldern.
Er wachte über die Kurve. Den Hang von der Straße
zu seiner Kuhle herunter bepflanzte er mit Gebüsch, das den Fall eines
Wagens mild aufhalten sollte. Neben seiner Behausung lag stets ein reichlicher
Vorrat Streusand, und in eisigen Nächten war er ständig draußen,
um die Fahrbahn in der Kurve abzustumpfen. Er verfügte über alles,
was zur Ersten Versorgung von Verunglückten notwendig war.
Seither war der Unfalltod seinem Bereich ferngeblieben.
Die ihn kannten oder von ihm hörten, empfanden eine mit Erstaunen gemischte Achtung. Leute suchten ihn auf, die mit irgend etwas in ihrem Leben nicht zurechtkamen. Sie sprachen ein wenig, zur Sache oder auch nicht. Sie saßen eine Stunde oder einen Tag oder einen Tag und eine Nacht bei ihm. Auf der Bank draußen oder an dem blanken Küchentisch drinnen. Wenig Worte wurden gewechselt. Sie murmelten einen Dank und gingen. Manche kamen oft. Andere schickten eine Flasche Whisky, eine Kiste Tee. Ihm waren alle lieb.
Der Alte, grauhaarig nun, graubärtig, dicke Falten von Wind und Sonne im Gesicht, in Jeans und einem karierten Hemd, lauscht auf das Sausen über ihm. Sie fahren nun zu Millionen, wohl wissend, wie viele von ihnen dadurch in jeder Minute sterben. Zu wenige hat er bewahren können, in der Kurve und im Leben.
Er ist müde. Still fließt das Dämmerlicht des Abends. Schlaf breitet sich aus in ihm, übermächtiger Schlaf, Schlaf ohne Erwachen.

Als unsere Kinder noch Kinder waren und die Überfahrt nur einen Groschen kostete, arbeiteten zwei einprägsame Männer auf der Seilfähre in Schmilka.
Der eine, größere, trug stets eine Schiffermütze, sommers eine offene schwarze Weste über dem hellen Hemd, ansonsten die Uniform der Dresdner Verkehrsbetriebe, zu denen die Fähre gehörte. Apfelbäckchen schmückten sein großes, kindliches Gesicht mit dem stetigen, freundlichen Lächeln. Sicher gehörte er einer demütigen christlichen Sekte an, die Bescheidenheit und Menschenliebe predigte.
Der andere war deutlich kleiner, fülliger, schien
immer mürrisch und hatte eine melancholisch gerade Nase. Die Uniform
sah man oft an ihm, auch die Mütze. Im Sommer trug er dunkel karierte
Oberhemden.
Ob sie Fährleute mit Leib und Seele waren - wie man
so sagt - das weiß ich nicht, denn ich habe sie nie außerhalb
ihres Dienstes gesehen. Aber diesen Dienst verstanden sie als Dienen. Wenn
die ersten Leute aus einem Dresdner Zug die Anlegestelle erreichten, lag
die Fähre da. Und die letzte Fähre zum Zug war auch wirklich
die letzte Möglichkeit, ihn noch zu erreichen.
Davon allerdings kenne ich eine Ausnahme.
Wir kamen an einem Sommerabend von einer großen
Tour, von Ceská Kamenice über den Rosenberg, der uns sehr angestrengt
hatte. Die Kinder hatten in Hrensko noch einkaufen wollen. Jedenfalls erreichten
wir zu einer Zeit die Anlegestelle, als der Zug schon hätte abfahren
sollen. Die Fähre dümpelte gerade herüber, langsam, denn
es war Sommer, der Wasserstand niedrig, und sie mußte ja die Strömung
für ihre Bewegung nutzen. Der apfelbäckige Fährmann sah
uns zögern, winkte, hievte uns an Deck noch bevor das Boot richtig
angelegt hatte, warf das Steuer herum und half hastig mit einer Stange
der Fahrt nach, während er etwas von "Verspätung" murmelte.
Wir hörten das Echo des Wagenrollens an der rechten Talwand, sprangen
auf den Ponton, hasteten zum Bahnsteig und erreichten noch den Zug. "Danke",
haben wir gesagt. Ob wir auch bezahlt haben, weiß ich nicht mehr.
Und noch ein Erlebnis hat sich mir eingeprägt.
Auch diesmal war ich aus dem Böhmischen gekommen.
Aber es war Winter, abends, dunkel und eiskalt. Das letzte Wegstück
hatte den Rest meiner Kräfte verbraucht, denn am späten Nachmittag
hatte es begonnen zu regnen, und die Dunkelheit hatte sich bösartig
mit Glatteis gegen mich verbündet. Ich schleppte mich zur Fähre
in der Hoffnung, daß wenigstens drüben am Haltepunkt der Warteraum
offenstünde. Der Zug fuhr erst in einer Stunde. Vor der Anlegestelle
kam mir der füllige Fährmann entgegen. Er wollte sicher zu seiner
Frau hineinschauen und etwas Warmes trinken. "Du hast noch Zeit",
sagte er, "setz' dich rein." Er ging noch einmal zurück
und ließ mich aufs Boot. Damals hatten die Seilfähren am Heck
unter dem Steuerbaum eine niedrige Kajüte. Darin stand im Winter ein
Kanonenofen, der geheizt war. Ich setzte mich auf die Bank, die Wärme
packte mich, und ich schlief fest ein. Der Fährmann weckte mich zur
richtigen Zeit. Auch diesmal weiß ich nicht, ob ich bezahlt habe.
Aber "danke" habe ich jedenfalls gesagt.
Wie alle Märchen beginnt auch dieses mit "Es
war einmal". Wie in jedem Märchen aber sind die Personen und
ihr Handeln wirklich gewesen.
Heute arbeiten junge Leute auf der Fähre, sicher
zuverlässig und fleißig genug, genau nach ihren Vorschriften
und Fahrplänen. Genüßlich liegt die Fähre herüben
und drüben fahren ungerührt die Züge ein und aus. Na ja,
sie verkehren auch häufiger als früher. Das tiefe Vertrauen in
Kunst und Wohlwollen des Fergen stellt sich nicht mehr ein.
Einen von den Jungen habe ich allerdings im Verdacht,
daß er nicht nur ein richtiger Fährmann ist, sondern auch ein
guter werden will. Ich werde ihn im Auge behalten.
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