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An einem frühen Morgen öffnete sich langsam die Tür unter dem Vordach am Forsthaus von Rúzová, was auf deutsch Rosendorf heißt. Pepík hob sich auf die Zehenspitzen und schaute vorsichtig über die Brüstung auf die leere, sonnenüberflutete Straße. Dann kam er ganz heraus, lehnte einen Wanderstab an die Mauer, legte ein kleines Bündel dazu und schloß die Türe leise mit beiden Händen. Er nahm Stock und Bündel wieder auf, stieg die beiden Stufen zur Straße hinunter und ging mit Schritten, so rüstig, wie sie ein Fünfjähriger eben zustande bringt, aufwärts zum Dorf hinaus.
Die Smidtová, die gerade ihr Bettzeug zum Lüften
auf die Fensterbänke in die warme Sonne legte, sah ihn vorbeiziehen
mit dem Stock, den er geschultert hatte, weil er wohl doch ein bißchen
zu lang war, als daß er hätte beim Gehen unterstützen können,
mit dem Bündel und der viel zu kleinen grünen Jacke. Sie machte
sich auf, um im Forsthaus nach dem Rechten zu sehen und fand den Großvater
hinten im Obstgarten. Er verstand die alte, wortkarge Frau schnell. Nachdenklich
betrachtete er sein linkes Handgelenk, das manchmal schmerzte, und dann
den Ruzák, den Rosenberg. Die sechshundert Meter hohe Basaltkuppe,
geheimnisvoll umhüllt von dichtem Rotbuchenwald, duldete wohlwollend
und mürrisch das Dorf unter sich.
"Pepík ist ein ernsthafter Junge", sagte
der Großvater. "Ich werd's dem Revierförster zu Mittag
erzählen." Er nannte den Schwiegersohn immer nur nach seinem
Amte. Die Smidtová nickte und ging.
Pepík bog inzwischen an den wie immer ein wenig
stinkenden Futtersilos in die Wiesen ein. Am Úvoz, der eigentlich
gar kein Hohlweg war, sondern ein schattiges, kühles, auf beiden Seiten
von Eschen und Eichen und mancherlei Gesträuch geschütztes Stück
Feldweg, blieb er stehen.
Bis hierher war er mit den anderen Jungen schon gekommen.
Schatten und Regenschutz der Bäume, dichtes, trockenes, hartes Gras
und der Abstand zum Dorf machten die Stelle anheimelnd und heimlich.
Er lehnte sich an ein Stück alten Zaun, blickte zögernd
zu den Häusern zurück und dann vorwärts, um das nächste
von den gelben Wegezeichen zu finden, die ihn zum Gipfel des Berges führen
würden. Schließlich überschritt er die Grenze seines bisherigen
Lebenskreises hinaus ins Sonnenlicht.
Gegenüber am Hutberg hatte der Revierförster
ein paar Waldarbeiter eingewiesen und suchte mit dem Fernglas die Felder
am Rúzák nach Hirschkühen ab, die vielleicht noch nicht
in den Schatten des Waldes zurückgewichen waren. Er sah seinen Sohn,
den Wanderstock, das Bündel und die grüne Jacke und erinnerte
sich seiner lehrhaften Reden über unauffällige Kleidung im Walde
und das Ziel der gelben Wegemarkierung. Das beruhigte ihn.
Pepík ging weiter den nun asphaltierten Weg am
Waldrand entlang, dann rechts einen Trampelpfad durch den Farn. Schließlich
begann dort, wo der Pfad den Fahrweg noch einmal berührte, der Aufstieg,
erst geradenwegs, später in ständigen Kehren. Zweimal traf der
Pfad auf den steilen Abfall in eine Geröllgrube. Von dort sah Pepík
weit bis hinein ins Deutsche mit seinen sonderbar geformten Sandsteinbergen.
Es ging nun steiler bergauf und wurde beschwerlicher durch Geröll,
Brennessel und querliegende Baumstämme. Pepík war leicht, und
die Schwierigkeiten beeindruckten ihn nicht. Nur Stock und Bündel
störten ein wenig. Die warme Jacke knöpfte er auf. Am Abzweig,
wo links der Weg ins Nachbartal geht und rechts zum Gipfel, bog er auch
richtig ab. Oben fand er die Grundmauern des zerfallenen Gasthauses und
die Klippen. An der unteren, kleineren Klippe, ein Stück vom Wege
ab, setzte er sich müde ins Gras, kaute ein Hörnchen aus seinem
Bündel und trank einen Schluck Wasser aus der Flasche. Der Aufstieg
in dieser heißen Luft hatte viel von seinen kleinen Kräften
verbraucht. Seine Gedanken, eben noch scharf auf den Weg, die Hindernisse
und die Geräusche rundumher gerichtet, zerfielen. Er legte den Kopf
auf das Bündel und glitt in einen zufriedenen Schlaf.
Seine Leute in der Försterei saßen am Mittagstisch.
Die Mutter hatte vormittags im Gemischtwarenladen gearbeitet und sah nun
ängstlich und erbittert auf die Männer, die ruhig ihre Suppe
und ihren Knödel aßen und schwiegen.
Am Nachmittag stieg auch der Revierförster auf den
Berg. Stark und im Steigen geübt, brauchte er eine Stunde bis zum
Gipfel und weckte seinen Sohn, der noch immer schlief. Sie kehrten gemeinsam
zurück. An den Lichtungen blickten sie bedächtig übers Land.
Der Vater nannte die Namen der Berge und Dörfer.
Als der Abend zu dunkeln begann, hockten Großvater
und Revierförster hinterm Haus mit ihrem Rotwein.
"Auf halbem Wege zur Wolfswiese holte mich mein Vater
ein." Der Revierförster stammte aus dem Isergebirge. "Ich
war losgegangen, um den Wolf zu suchen." Der Großvater betrachtete
sein linkes Handgelenk und erinnerte sich an das Gefühl unbändiger
Freiheit. Es hatte ihn auch nicht verlassen, als er beim Abstieg aus dem
Riß rutschte und drei Meter tiefer auf dem Waldboden aufschlug.
Der Vater blickte auf den schwarzen, im Dunkel flüsternden
Rosenberg, der Großvater auf das geöffnete Fenster unter dem
Dach, wo Pepík schlief. "Mehr als ein Geburtstag", dachten
sie, "der Tag, an dem es allein in die Welt ging."

Trotzig steht er da, einsam emporstrebend aus der Tiefe
des Zschands, alles um sich her überragend. Zwar erreicht er nicht
die Höhe des Massivs drüben, aber er steht weitab genug, daß
er sich nicht vor Mächtigerem bücken muß.
So dachte wohl auch der recke zcum wintersteine,
der hier im fünfzehnten Jahrhundert hauste. Die Landesherren und der
Städtebund bedrängten ihn. Aber ein allein stehender Mensch ist
weniger fest als ein allein stehender Fels. Nachdem man Nachbarn und Freunde
gezwungen hatte, dem wilden Gesellen abzuschwören, wurde er gedemütigt
und vertrieben.
Sand und Steine in Massen hat der Felsen abgeworfen, als
er sich vom Massiv löste. Wasser und Wind haben das meiste davon mitgenommen.
Eine mächtige Halde ist übriggeblieben und ein Blocksaum am Fuß
des Felsens.
Beides überwindend erreicht man den Zugang der Höhle.
Sie war ein Teil der Unterburg. Steinbänke sind hier aus jener alten
Zeit und eine Feuerstelle aus neuer. Und natürlich die Leiter zu dem
Band. Ohne sie wäre es nur Bergsteigern möglich, hinauf und in
die Kluft zu gelangen, die zum Gipfel führt. Nach dem vorerst letzten
deutschen Kriege waren die Steiganlagen verrottet und entfernt, und die
Kletterer fanden siebzehn Wege, die alle den sächsischen Regeln entsprachen.
Dann stellten eifrige Wanderer eine hölzerne Leiter auf. Das Band
blieb frei. Heute ist alles aus Edelstahl. Zappelige, atemlose, kreischende
Touristen schützt ein Fangkorb.
Ich steige hinauf. Es ist ein milder Sommerabend. Die
wimmelnden Fremden hasten schon auf ihren Heimwegen.
Im oberen Teil der Leiter muß ich mich wie gewöhnlich
flach auf sie legen. Der Rucksack schabt am Stein. Ich tappe durch die
Kluft und halte mich dann rechts. Da ist der Riß. Ich muß den
Rucksack abnehmen. Schließlich tauche ich auf das Plateau.
Oben sitzt einer, der so alt ist wie ich, und beobachtet
mich. Ich nicke ihm zu und sehe mich in der Landschaft um, wie ich es gewohnt
bin. Der Mann sagt:
"Komm her! Heute ist hier der beste Platz."
Ich setze mich neben ihn und lasse wie er die Beine in einen Riß
baumeln.
"Rotwein?" Er gießt den Rest aus seiner
Flasche in meinen Becher. "Oft hier oben?"
"Früher. Jetzt nicht mehr. Zuviel Leute."
Er grinst.
"Abends geht's. Mußt nur sehen, daß de
runterkommst, eh's dunkel wird. Sonst kannste dir de Knochen brechen."
Da hinten geht eine rotgelbe Sonne unter. Die Kette der
Schrammsteine schwimmt wie dunkler Dunst in hellerem. Ich grabe aus meinem
Rucksack die Flasche und schenke nun ihm ein. Er kostet.
"Na", sagt er, "auch aus'm Karton?"
"Für unterwegs ist er gut. Nicht zu süß,
und man braucht nicht zu sparen. Außerdem ist er schön voll
Luft durchs Schütteln. Zu Hause kriegt man das nicht hin."
Er schweigt eine Weile, als wäre er gerührt,
daß ihm ein anderer seine Gedanken vorspricht. Die Sonne ist kaum
noch zu sehen. Laue Luft beginnt, über den Felsen zu streichen.
"Nur einmal bisher habe ich unten gestanden und bin
nicht hochgestiegen, an einem Abend zehn Tage vor Weihnachten. Der Schnee
lag mehr als knöcheltief. Bis in die Höhle bin ich gekommen.
Die alte Holzleiter stand noch drin. Das Band glänzte im Dunkel, schwarz,
vereist. Eine Freundin war mit dabei. Die einzige in meinem Leben, der
ich eine von meinen Stellen zeigen wollte. Sie hatte sich für die
Tour nur mühevoll losmachen können. Wir sahen hinauf. Bei aller
Unvernunft. Es ging nicht.
Unten auf der Zeughausstraße kam dann ein Taxi.
Stell dir vor: Winter, Abend, diese Gegend, ein Taxi! Wahrscheinlich hatte
es jemanden ins Ferienheim gebracht.
Wir fuhren zurück. Die ganze Zeit überlegte
ich, ob mein Geld reichen würde.
Letzten Endes war aber alles ein Glück für uns.
Ich hatte mich mit der Zeit völlig vertan. Ohne Eis und Taxi wären
wir viel zu spät zurückgekommen."
Er schweigt eine Weile. Dann trinkt er langsam den Wein
aus, so, wie ich es auch gern tue: Er füllt sich den Mund und wartet
lange, ehe er schluckt. Dann spricht er mit langen Pausen:
"Wir waren nur kurz zusammen ...
... nicht mal einen Monat ...
... ich war neu, ganz neu und anders ...
... und habe ihr nie danken können."
Die Dämmerung wird zu tief. Wir steigen zurück.
"Willste übers Massiv oder zum Beuthenfall?"
Wir gehen nach Schmilka und sprechen miteinander nur noch
die wenigen Worte, die der Weg notwendig macht.

Drei Juwelen besitzt der Rachel: einen Smaragden, einen
Rubin und einen Aquamarin. Kleinode, die er nicht im Tresor verborgen hat,
weil sie niemand davontragen kann, und weil er sie, die Insignien seines
Standes, nicht ablegen kann. Frei und offen strahlen sie jedem entgegen,
kaum zu schützen vor Schmutz und Schändung.
Der See ist der Smaragd. Umgeben von steilen Hängen,
die beinahe genauso senkrecht aufstreben wie die Fichten, die auf ihnen
wachsen. Schweben die Wolken tief, ändert er seine Farbe, wird milchig,
fast weiß. Alles scheint flacher zu werden: das Wasser, die Landschaft,
das Licht. Im Herbst schmücken rote Vogelbeeren und buntes Laub seine
Ufer.
Am besten, man ist morgens hier. Stille lebt ringsum.
Die Insekten fliegen noch nicht. Die Vögel warten, daß der Tau
auf ihrem Gefieder trocknet. Aber der Wald reckt sich schon ein wenig.
Es knackt da und dort. Manchmal raschelt es auch.
Die Fläche des Sees ist unbewegt. Nicht, daß
sie schwer lasten würde. Sie schwebt über dem Grund und atmet
kaum. Der Hang gegenüber verdämmert im Dunst. Es ist kühl
und feucht.
Dann tönen irgendwoher Stimmen. Ich fliehe den Berg
hinauf.
In halber Höhe steht die Kapelle auf einem Felsvorsprung.
Ganz aus Holz ist sie gebaut. An einer Seitenwand entlang kann man nach
vorn gehen. Unten liegt still der smaragdene See. Noch immer verhängt
Dunst die weitere Sicht. Die Tür der Gotteskate ist mit einem hölzernen
Riegel mehr festgehalten als versperrt. Innen schimmert das blanke Holze,
bedeckt von der Erinnerung an die Hände, die es berührten und
bearbeiteten. Schrifttafeln sind da. Eine berichtet von Johann Lentner,
dem Herrgottsschnitzer. Heilige Augen blicken hernieder. Eine Glocke im
Gebälk kann rufen, wenn es nötig ist.
Rubinrot warm wird die Seele eingehüllt von der Andacht
der Erbauer und der Beter dieser Hütte Gottes. Hocken möchte
man hier, wenn Wetter und Jahreszeit den Grellen aus der Welt der Plakate
mit ihren lauten Stimmen und verschleierten Zuschauerblicken den Weg hierher
verleidet haben.
Heute steige ich weiter aufwärts.
Über den Gipfelklippen reckt sich hochauf das Kreuz.
An feierlichen Tagen hebt ein tiefblauer Himmel das schwarzbraune Holz
hervor aus dem unendlichen Raume und der Christus leuchtet silbrig, verkündend
seine eindringliche Botschaft. In grauen Alltagen steht es mahnend, herausgehoben
auf dem Berg, Sinnbild der Beständigkeit eines Glaubens.
Bei gutem Wetter krauchen unzählige Menschen vom
überfüllten Parkplatz her die markierten Wege den Berg herauf.
Zirkusbunt sind sie gekleidet in Sachen, die einem Regenguß oder
einem stärkeren Wind nicht standhalten würden. Ihre Schuhe klagen
noch mehr als die darinsteckenden Füße über die Beschwerlichkeiten
des Weges. Laut und aufdringlich fegen ihre leeren Worte durch die Luft.
Dann wimmeln sie um IHN herum. Selbst diejenigen, die sonst in Kirchen
ein Kreuz zu schlagen pflegen, halten es hier nicht für nötig,
hier, vor einem Altare, der nicht nur Heil und Triumph verkündet,
der nicht nur erinnert an die Liebe zum Nächsten, sondern der auch
die Verantwortung des Menschen für die Schöpfung beschwört.
Man schwatzt, hoppelt über die Felsen und eigentlich langweilt man
sich. Die Landschaft wird nicht betrachtet und das Kreuz nicht beachtet,
es sei denn, jemand zückt seine Kamera zu einem Gruppenbild mit dem
Herrgott.
Ein Frommer hockt am Fuße des Kreuzes bei Nebel
und allein. Unauffällig. Er hebt sich kaum vom Stein ab. Die weiten
Landschaften des Gebirges sind verborgen, aber er spürt sie. Ob er
gläubig ist oder nicht: Andacht erfüllt ihn. Kraftvoll und standhaft
leuchtet der Aquamarin im Dunst. Ruhig und sicher steigt der Wanderer wieder
ins Tiefland hinab.
Drei Juwelen trägt stolz und bekümmert der Rachel.

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